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Nach dem Anschlag auf "Charlie Hebdo": Was Frankreich zusammenhält

Die Spannungen innerhalb der französischen Gesellschaft sind groß. Deshalb ist es wichtig, die Werte zu beschwören, die den Zusammenhalt eines Landes ausmachen. Das gilt nicht nur für Frankreich. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Gerd Appenzeller

"Wir sind Charlie“ – mit diesem Plakat, mit diesem Satz drücken Menschen in der ganzen Welt – oder besser: überall da, wo sie auf dieser Welt ihre Meinung kundtun dürfen – Mitgefühl mit den ermordeten französischen Journalisten und Polizisten aus. Es ist ein Bekenntnis zur Meinungsfreiheit und zur Freiheit der Presse, Dinge aussprechen und zeigen zu dürfen, auch wenn die nicht allen gefallen. Es ist eine Geste der Teilnahme und der Zusammengehörigkeit. Deswegen druckten viele Zeitungen, auch der Tagesspiegel, am Donnerstag Karikaturen aus „Charlie Hebdo“ nach. Es war eine Weise, zu sagen: Auch wir sind Charlie.

Wenn die Menschen in unserem westlichen Nachbarland jetzt diese Worte zitieren, ja, sie herausschreien, wie eine Monstranz vor sich tragen, meinen sie aber noch etwas anderes, etwas ganz Spezielles, das nur für unser Nachbarland gilt. Wir sind Franzosen, wollen sie sagen. Wir stehen für eine Tradition von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Wir stehen für Menschenrechte und die lassen wir uns nicht nehmen. Und nehmen lassen wollen wir uns auch nicht unsere Solidarität.

Die Solidarität mit den Opfern und die Gemeinschaft miteinander. Das gehört zum französischen Nationalgefühl, das, anders als in Deutschland, lange unter keinen Identitätskrisen wirklich gelitten hat – Krisen, die es auch gab, man denke nur an die Zeit von Vichy- Frankreich, dem Teil des Landes, der mit den Nazis kollaborierte. Jetzt aber wurde durch den verbrecherischen Anschlag von Paris eine andere Krise schmerzhaft offenbar – die eines Frankreich, dem die Integration von Millionen Zugewanderten und deren Nachkommen nicht gelingen will.

Erbe der Geschichte

Es ist auch ein Erbe der Geschichte, der bis heute nicht bewältigten Kolonialgeschichte. Zwischen 1956 und 1962 wurden die ehemaligen Kolonien Marokko, Tunesien und Algerien unabhängig. Allein aus Algerien kamen etwa eine Million Europäer, die in einem selbstständigen arabischen Nationalstaat nicht leben wollten, in das Mutterland zurück. Arabische Einwohner nutzten die Einwanderungsmöglichkeiten nach Frankreich, zwischen 1990 und 2010 stieg die Zahl der in Frankreich lebenden Muslime von 570 000 auf 4,8 Millionen. Offizielle Statistiken über religiöse oder ethnische Zugehörigkeiten sind verboten, um Diskriminierungen zu verhindern.

Das führt aber eben auch dazu, dass gesellschaftlicher Handlungsbedarf zu spät erkannt wird. Die dritte Generation mit maghrebinischen Wurzeln, die jetzt in Frankreich lebt, ist inzwischen erwachsen. Anders als die der Eltern und Großeltern war sie lange weltzugewandt und weniger orthodox im Lebensstil. Das hat sich geändert. Zum einen, weil dieser jungen Generation die Integration schwer gemacht wurde – obwohl sie ja alle fließend Französisch sprachen, französische Staatsbürger sind.

Der Nahostkonflikt und Frankreich

Aber schon die arabisch klingenden Namen erweisen sich bei der Jobsuche als nur schwer überwindbare Hindernisse. Bei Polizeikontrollen werden sie wegen ihres Aussehens als Erste herausgegriffen. Die Rückbesinnung auf traditionelle Verhaltensnormen aus dem Islam war da ein verständlicher Reflex. Die Spannungen des Nahostkonflikts wirken sich zudem in keinem europäischen Land so massiv aus wie in Frankreich.

Wo es so viel gibt, das trennt, wird es doppelt wichtig, jene Werte zu beschwören, die den Zusammenhalt eines Landes ausmachen und zu denen sich die überwältigende Mehrheit der fast fünf Millionen muslimischen Franzosen bekennen. Als Staatspräsident François Hollande von der französischen Identitätskrise sprach, war der Mord an den Redakteuren von „Charlie Hebdo“ noch nicht geschehen. Hollande bezog sich vielmehr auf den gerade erschienenen Roman von Michel Houellebecq, in dem das Frankreich des Jahres 2022 von einem Muslim präsidiert wird. Die Krise, die Hollande meint, ist nicht nur eine der Wirtschaft. Es ist eine Krise des Selbstwertgefühls, der Angst vor der Zukunft, der Ungewissheit. Deutschland ist nicht Frankreich. Aber nachzudenken über das, was uns zusammenhält, gäbe es auch auf dieser Seite des Rheins Grund genug.

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