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Brüssel nach den Attacken: Europa steht zusammen.

© dpa

Nach den Terroranschlägen von Brüssel: Hand aufs Herz

Es ist schwer, die richtigen Lehren aus Brüssel zu ziehen. Nur der gelebte Respekt vor jedem einzelnen Leben kann helfen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Ingrid Müller

Das Herz Europas ist angegriffen worden: Brüssel, die Hauptstadt des Kontinents. Für viele Bürger fühlt sich dieser Schrecken besonders an. Was auch immer sie mit denen, die dort die Geschicke Europas lenken, verbinden oder was sie von ihnen zu trennen scheint: Vielen ist im Angesicht der Brüsseler Anschläge bewusst geworden, dass der Flughafen und die Metro im Europaviertel dort Symbole sind. Sie sind die Adern, hier laufen sie zusammen zum Herzen, hier pulsiert das Blut Europas. Dort sollten alle Europäer und all jene, die mit ihnen sind, gestoppt werden: das Herz der Freiheit und seine lebenswichtigen Organe.

Die Herzen vieler Menschen sind tief getroffen worden. Die Bombenattacken haben auch die Herzen der Politiker in besonderer Weise berührt. Diese Attacke ist in dem zum traurigen Stakkato angeschwollenen Anschlags-Alarm ein neuer wunder Punkt. Jeder konnte die Tränen der Politiker sehen oder sie zumindest erahnen. Die engagierte EU-Außenbeauftagte Federica Mogherini, die sich in ihrer Amtszeit entgegen allen Voraussagen bereits hohen Respekt erworben hat, ließ das fürchterliche Gefühl zu – vor laufenden Kameras. Die Tränen überwältigten sie auf einer Pressekonferenz in Jordanien, in einer Region, wo der Schmerz durch Terror den Menschen seit Jahren keine Ruhe lässt. Außenminister Nasser Judeh versuchte, Trost zu spenden, mit Wort und als Gentleman der Tat. Gefühle und Gesten, menschlich. Gefühle, die wohl viele andere Menschen in diesen Stunden teilen.

Der Druck auf die Minister steigt enorm

Bundesinnenminister Thomas de Maiziere, der mit rot geränderten Augen Interviews gab, ließ erahnen, welcher Druck wohl auch auf seinem Herzen lastet. Er versuchte, preußisch korrekt Haltung zu bewahren. Doch vermochte er sein Mitgefühl für die Opfer und ihre Angehörigen leider wieder einmal nur in papierne Worte zu kleiden. Der müde Mann wirkte ängstlicher als all jene, die Augenzeugen waren und von den Ereignissen am Flughafen und in der U-Bahn berichteten. Der Minister machte Angst mit langen Sätzen darüber, dass „jede Woche, zum Teil jeden Tag“ Hinweise auf Anschläge auch in Deutschland eingehen, dass „die Art und Weise der Begehung“ der Taten von Paris und Brüssel sich ähneln, dass die Täter sich in Frankreich, Belgien, Österreich und auch in Deutschland aufhielten. Schließlich verfiel er ins hilflose Mantra, wenn nur die Sicherheitsbehörden mehr Daten austauschen könnten, wäre alles besser. Ein Ein- und Ausreiseregister aus den Schengenstaaten sei nötig. Als Antwort darauf, dass sich beispielsweise der vermutliche Kopf der Pariser Attentäter monatelang unbehelligt in Europa bewegen konnte? Als Antwort darauf, dass die Täter von Brüssel offensichtlich der Polizei bekannt waren? Es ist, als wolle er mit weißer Salbe das Herz kurieren. Das hat Qualitäten eines Wunderheilers. Beim Zuhören kann einem das Blut in den eigenen Adern gefrieren.

Es geht um die Wertschätzung des Lebens

Angela Merkel, auch sie rang sichtbar um Fassung. So leicht ist die Kanzlerin nicht mehr zu erschüttern. Doch ihr war anzusehen, dass die Anschläge sie berührt haben – offenbar auch ihr Herz. Sie sagte „ganz persönlich“ Worte wie „was die Terroristen den Menschen in Brüssel angetan haben, was Terroristen uns allen angetan haben“. Die Mörder seien Terroristen ohne Rücksicht auf die Gebote der Menschlichkeit. Sie bezieht alle Menschen ein. Ihre Worte zeigen, wie sehr auch ihr politisches Herz getroffen ist, zieht sie doch Parallelen zum 11. September 2001, wenn sie dem belgischen Premier die „volle Solidarität“ bei der Suche nach den Schuldigen zusichert. Der Tatort Brüssel erinnert sie daran, dass die Täter Feinde aller Werte seien, für die die Mitglieder Europas heute gemeinsam und voller Stolz stünden. Fast wie ein Flehen in Richtung London, Budapest, Warschau, Rom, Athen und all die anderen Hauptstädte, vielleicht auch nach Ankara, klingt ihr Satz: „Unsere Kraft liegt in unserer Einigkeit.“ Aus weiser Überlegung spricht sie wohl nicht von Krieg. Das wäre möglicherweise das, was sich die Terroristen wünschten. Aber es geht um das Gegenteil: Frieden und Freiheit. Die Tränen trocknen, die der Angehörigen, der Politiker, aller Mitfühlenden. Die Herzen aber bleiben wund. Die der Bürger wie der Politiker. Alle wissen es, auch wenn sie es sich nicht so recht zu sagen wagen. Weil es zu gefühlig klingt?

Damit das Herz Europa und Europas Herz weiter kraftvoll schlagen und die Freiheit in seinen Adern pulsieren kann, darf niemand diesen Angriff als Herzrhythmusstörung abtun oder nur den Eindruck erwecken, all das könne mit einem Schrittmacher und Batteriewechseln routiniert gerichtet werden. Hier geht es nicht um christliche oder muslimische Werte, sondern um Wertschätzung des Lebens jedes Einzelnen in Sätzen wie Taten. Dazu müssen alle beitragen, können alle beitragen, alle Politiker, Bürger. Mit Respekt vor der Situation, aber ohne Angstmacherei. Zum Herzen gehören die Adern, die Organe. Sie können am Ende ohne die Leistung des Herzens nicht existieren. Das gilt für jeden Menschen wie für Europa.

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