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Wortschlacht vor Zuschauern: Olaf Scholz, Annalena Baerbock und Armin Laschet beim TV-Triell Mitte September.

© John MacDougall/AFP

Rückblick auf den Wahlkampf: Nahaufnahmen aus dem Machtwechsel

Lange schienen Olaf Scholz und die SPD im Rennen ums Kanzleramt abgeschlagen. Wie sie sich vorankämpften, beschreibt Stephan Lamby in seinem Buch "Entscheidungstage".

Von Hans Monath

Die Halle ist ziemlich leer, in die Olaf Scholz von seinem Pult hinunterblickt, und trotzdem bleibt ihm wieder einmal nichts anderes übrig, als Siegesgewissheit zu verbreiten. Rund vier Monate vor der Bundestagswahl versucht der Kanzlerkandidat der SPD Ende Mai beim Ostkonvent in Halle an der Saale seiner Partei Mut zuzusprechen – und das ist auch bitter nötig. Im Bund liegen die Sozialdemokraten in Umfragen weiter abgeschlagen bei 15 Prozent, in Sachsen-Anhalt, wo die Szene spielt, stehen sie eine Woche vor der Landtagswahl sogar noch viel schlechter da.

Die Sozialdemokraten haben das Georg-Friedrich-Händel-Festhaus gebucht, aber das ist „völlig überdimensioniert“, wie Augenzeuge Stephan Lamby in seinem Buch „Entscheidungstage. Hinter den Kulissen des Machtwechsels“ notiert. Das Interesse am Ostkonvent hält sich in engen Grenzen. Nur wenig mehr als 1000 Menschen in ganz Deutschland verfolgen den Online-Livestream der Veranstaltung, daran können auch die bemüht launigen Bemerkungen auf der Bühne nichts ändern.

Scholz und die anderen Spitzengenossen wirken verloren in dem großen Saal – und der Beobachter fragt sich, ob dieser Sonntag in Halle wohl „der Tiefpunkt auch der bundesweiten Wahlkampagne“ der SPD ist. Kein Sozialdemokrat, mit dem er sich am Rande des Konvents unterhält, glaubt noch an den „Turnaround“, die Wende hin zum Sieg.

Sie hat keine schlaflosen Nächte, weil Olaf Scholz ihr Nachfolger wird: Angela Merkel und Olaf Scholz im Bundestag.
Sie hat keine schlaflosen Nächte, weil Olaf Scholz ihr Nachfolger wird: Angela Merkel und Olaf Scholz im Bundestag.

© Kay Nietfeld/dpa

„Wie tief kann die Partei, die zu Recht stolz auf ihre lange, bewegte Geschichte und ihre zahllosen Errungenschaften zurückblickt, noch sinken?“, fragt sich der Autor. Es ist bei der Bundestagswahl dann bekanntlich anders gekommen, und wie dieser bis spät ins Wahljahr hinein so unwahrscheinliche Sieg der SPD gelang, davon handelt das Buch des dutzendfach preisgekrönten politischen Dokumentarfilmers Lamby auf rund 370 Seiten. Die Beschreibung der tristen Szene im Georg-Friedrich-Händel-Festhaus verrät viel über seine Arbeitsweise.

Der 62-jährige Hamburger ist mit einem Kamerateam sehr oft selbst dabei, wenn deutsche Parteien Entscheidungen treffen oder verkünden, und am Rande von Pressekonferenzen und Parteitagen fragt er die Protagonisten und auch alle Kundigen nach ihrer Meinung, die er trifft.

Seit 1998, so schreibt er, beobachtet er Bundestagswahlen, ihn interessiert nicht nur das öffentlich Sichtbare, sondern die Tiefenschichten der Entwicklung. Fast ausnahmslos alle heute wichtigen deutschen Politikerinnen und Politiker hat er persönlich gesprochen und in Interviews ebenso freundlich wie hartnäckig befragt oder porträtiert.

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In seinem Buch schildert er eine Szene, die er, etwas gekürzt, auch in seinem im September ausgestrahlten Wahlkampf-Dokumentarfilm „Wege zur Macht“ verarbeitet hat, in dem er auch Armin Laschet, Annalena Baerbock, Robert Habeck und Christian Lindner eng begleitet und ausführlich zu Wort kommen lässt. In der Szene geht es wieder um Olaf Scholz – von ihm will er unbedingt wissen, ob er einen Negative-Campaigning-Spot für den SPD-Wahlkampf kannte, den die Partei wegen heftiger Kritik daran zurückgezogen hatte.

Doch der ohnehin oft schmallippige Vizekanzler sucht vor der laufenden Kamera sein Heil in dürftigen Ausflüchten, während Lamby ein ums andere Mal nachhakt. Das Ergebnis: „Olaf Scholz hat unzählige Nebelkerzen gezündet. Schließlich sieht er mich fest an, um zu prüfen, ob er mich ausreichend verwirrt hat. Er beginnt, zu lächeln. Wir können dieses Frage-Antwort-Spiel noch zwanzig weitere Minuten spielen – es ist völlig klar: Olaf Scholz wird auf meine Fragen nicht wirklich antworten. Jede klare Antwort ist für ihn riskant.“

Dokumentarfilmer und Autor der Wahlkampf-Analyse "Entscheidungstage": Stephan Lamby.
Dokumentarfilmer und Autor der Wahlkampf-Analyse "Entscheidungstage": Stephan Lamby.

© Christophe Gabeau/dpa

Das zeigt eine Stärke des Buches: Es ist atmosphärisch dicht, oft können Leser den Eindruck gewinnen, sie seien selbst dabei, wenn der Autor mit jenen politischen Schwergewichten um die Wahrheit ringt, die erst die Bundestagswahl gewinnen und dann Kanzlerin oder Kanzler werden wollen. 

Anders als etwa Robin Alexander in seinem Bestseller „Machtverlust“ erweckt Lamby nicht den Eindruck, er habe in den Hinterzimmern der Macht eine Kamera hinter die Tapete geklebt oder säße gleichsam mit im Raum, wenn die Wahlkämpfer um Entscheidungen ringen. Woher sein Wissen stammt, mit wem er spricht (wenn auch oft anonym), macht er meist transparent.

Das Buch beleuchtet auch eine Entwicklung, die den Hintergrund des Wahlkampfs bildet: den Verlauf der Corona-Pandemie und die trügerischen Hoffnungen und Versprechungen der Politik im Sommer 2021 im Hinblick auf ein baldiges Ende der Restriktionen. Früh kommt die Virologin Melanie Brinkmann vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung zu Wort, die in der Politik eine klare Strategie und eine verständliche Vermittlung ihrer Ziele vermisst.

Der Autor analysiert genau, wie im Wahljahr erst die Dominanz der Grünen in den Umfragen kollabiert und dann auch noch die zur Schau gestellte Harmonie zwischen Baerbock und Habeck massiv unter Druck gerät. Er hört früh Klagen im Konrad-Adenauer-Haus über die Überlastung des CDU-Kandidaten Laschet durch seine zweite Rolle als Ministerpräsident und dessen kapitale Fehler. Oder interviewt in München CSU-Chef Markus Söder, der noch in der Endphase des Wahlkampfs den Druck auf Laschet erhöht.

Keinen Zweifel lässt Lamby daran, dass der Abschied von Angela Merkel nach 16 Jahren eine historische Zäsur darstellt – und Chancen bietet für einen Neuaufbruch. Die Analyse des entscheidenden Umschwungs im Wahlkampf gerät angesichts der Fülle des Materials in diesem Buch vielleicht etwas kurz.

Schlüsselszenen eines Wahlkampfes:  Armin Laschet und Olaf Scholz Anfang August im Katastrophengebiet in Nordrhein-Westfalen.
Schlüsselszenen eines Wahlkampfes:  Armin Laschet und Olaf Scholz Anfang August im Katastrophengebiet in Nordrhein-Westfalen.

© Marius Becker/dpa

Ein zentrales Argument lautet: „Olaf Scholz und sein Team waren so professionell, dass sie die Patzer der anderen ausgenutzt haben. Und dass sie es bei ihrem eigenen Marathon seit Bekanntgabe der Kandidatur im August 2020 nahezu fehlerfrei ins Ziel schafften.“

Womöglich war der Filmemacher und Autor wie ein Großteil der Öffentlichkeit lange auf einer anderen Spur. Das schmälert aber nicht seine Leistung: Dieses Buch ist ein Gewinn für jeden, der sich für Politik interessiert.

Wer wissen will, wie der Kampf ums Kanzleramt verlief, welchen brutalen Kräften Spitzenkandidaten ausgesetzt sind, wie Dynamiken sich verstärken oder zusammenbrechen, wird viel lernen bei der Lektüre.

Olaf Scholz ist bekanntlich äußerst stolz auf seine analytischen und strategischen Fähigkeiten und seinen Durchhaltewillen auch bei Gegenwind – dass er und seine SPD einen Plan für die Zukunft gehabt hätten, war eine seiner Hauptbotschaften im Wahlkampf.

Der Autor sieht das anders, der SPD-Politiker ist für ihn kein Mann der Veränderung. Lamby verlangt vom Kanzler im Wartestand, sich selbst neu zu erfinden, sonst könne das nichts werden mit dem Aufbruch in die klimaneutrale Zukunft Deutschlands, warnt er: „Wenn Olaf Scholz dauerhaft Erfolg haben will, wird er sich angesichts des Veränderungsdrucks selbst verändern müssen.“

Die Republik wird es erleben, ob es einen zweiten, dritten oder vierten Olaf Scholz geben wird, der bekanntlich schon Häutungen hinter sich hat, weil er als Juso früher den Kapitalismus überwinden wollte. Ob die Ampelkoalition nun scheitern wird oder ein neues Kapitel in der deutschen Geschichte aufschlagen kann, steht in den Sternen. Ziemlich sicher ist dagegen: Stephan Lamby wird sein Kamerateam mitbringen und möglichst viel aufnehmen und aufschreiben, damit möglichst viele Menschen zuschauen oder nachlesen können, was gerade passiert und wie es gekommen ist. 

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