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2011

© Kai-Uwe Heinrich tsp

Politik: Nesthäkchen fliegt raus

Weg aus dem Elternhaus, das war einmal der dringlichste Wunsch junger Menschen. Vorbei. Heute wollen die Kinder lieber bleiben.

Es ist Sonntagmittag, 13.30 Uhr, wir schreiben noch das Jahr 2011, und: Wir haben ein Problem! In unserer Wohnung. Nein, nicht mit unserer Wohnung. Wir wohnen gern hier. Das Problem ist unser Kind! Dieses Kind ist 22 Jahre alt, weiblich, wohlgeraten, unser ganzer Stolz! Aber: Es wohnt noch immer bei uns!

Doch jetzt, wo an einem Sonntagmittag das Kind mit einem vorwurfsvollen „Muss das jetzt sein?!“ kurz aus dem „Kinderzimmer“ blickt, weil der Staubsauger lärmt, ist die Erkenntnis da. Das Lösungswort heißt: Trennung. Nachdem wir über zwei Jahrzehnte diesem lieben Menschenkind alles gegeben haben an Liebe, Aufmerksamkeit und Fürsorge, sollten sich unsere Wege trennen. Warum? Gab es Streit? Nein. Die diversen Auseinandersetzungen finden doch bitte, wie in jeder Familie, in der Pubertät statt und enden zu dem Zeitpunkt, bis man als Eltern vor den kurz vor der Volljährigkeit stehenden Kindern dasteht und ruft: Deine Pubertät ist vorbei!

Nein, es gab keinen Streit mit der jungen Erwachsenen, vielmehr hat sich ein Müdigkeitsgefühl eingestellt, das hochkommt, wenn man leise mit leicht gebücktem Rücken den Staubsauger an einem Sonntagmittag zurück in den Schrank räumt, einem dabei das Blut in den Kopf schießt und man zu rechnen beginnt: 20 Jahre, genauer gesagt in diesem Fall 22 Jahre, das ist eine lange Zeit. Und jetzt ruft der Staubsauger vehement nach Trennung?!

Genau! Denn wir, die Mütter und Väter dieser jungen Erwachsenen, haben auch ein Recht auf ein eigenes Leben, oder zumindest ein Recht, dass unser Leben wieder beginnt. Und dabei wollen wir ganz ungestört sein und nicht auf die Frage „Muss das jetzt sein?!?“ (die übrigens immer mit einem Gesichtsausdruck der jungen Menschen gestellt wird, als seien wir allesamt wieder in die Pubertätszeit versetzt worden, obwohl diese doch schon seit Jahren hinter uns liegt) antworten. Denn diese latent vorwurfsvoll verschlafen-vernuschelte Frage gibt uns das Gefühl, ein rücksichtsloses, egoistisches Monster zu sein, nur weil unser Tagesablauf anders aussieht als der von Anfang Zwanzigjährigen. Hinzu kommt, dass wir, die Eltern, wie seit einigen Jahren am Sonntagmorgen notwendig geworden, uns nicht mehr verschämt im Bademantel vom Schlafzimmer ins Bad schleichen wollen in der Hoffnung, dass uns der junge Partner unserer Tochter dabei sieht. Denn wir, „die Alten“, sind rücksichtsvoll und wollen die jungen Leute, die die eigentlichen Monster sind, weil sie es sind, die nicht aus dem Haus gehen, nicht in Verlegenheit bringen.

Musste meine Großmutter (Jahrgang 1909) mit 17 ihr Elternhaus verlassen, weil sie mit meinem Großvater händchenhaltenderweise gesehen worden war und zur Heirat gedrängt wurde, saßen die Freunde meiner Tochter (Jahrgang 1989), mit bei uns am Tisch und später in unserer Badewanne.

Aber wann, ja wann?!, gehen sie endlich? Oder gehen sie nie?

64 Prozent der 18- bis 24-Jährigen leben in Deutschland mit ihren Eltern in einem Haushalt zusammen. Allein leben 17 Prozent. 57 Prozent der 18 bis 24jährigen Frauen leben noch zu Hause, bei den jungen Männern sind es sogar 71 Prozent. In Griechenland und Italien ziehen die Söhne im Durchschnitt erst nach dem 30. Lebensjahr aus, in Spanien und Portugal nur geringfügig früher. Das durchschnittliche Alter, wenn junge Frauen ihr Elternhaus verlassen, liegt in Deutschland bei 22 Jahren. Tendenz steigend.

Damals, als wir selbst noch jung waren, konnten wir es kaum erwarten, von zu Hause auszuziehen, auf eigenen Beinen zu stehen und ungestört Übernachtungsbesuch zu empfangen. Dafür jobbten wir in Cafés, Fabriken oder trugen Zeitungen aus, nur damit wir unabhängig werden konnten. Wir wollten nicht, dass unsere Mütter und Väter sahen, wer unser Zimmer am nächsten Morgen bzw. Mittag verließ. Und umgingen solche programmierten Diskussionen mit dem früh- und rechtzeitigen Auszug. Wir wollten weg, und wir konnten weg.

Ich selbst bin – wie viele meiner Freunde damals – mit 18 ausgezogen. Das war nicht ungewöhnlich, das war „normal“. Gar nicht weit genug weg konnte es sein. Damals. Wir waren der Kommentare unserer Eltern überdrüssig, „Ihr habt doch so eine gute, freie Jugend“, hieß es immer. Ganz anders als bei ihnen damals, der Kriegsgeneration. Doch dafür hatten wir bald kein Ohr mehr. Wir wollten noch freier sein, als unsere Eltern es uns zugestehen wollten. Zugegeben, ein wenig trotzig, ein wenig übereilt ging so manch einer von uns, und sehnte sich vielleicht schon nach wenigen Wochen wieder zurück. Aber wir zogen aus! Sogar in andere Städte waren wir gegangen. Um unseretwillen und um unserer Eltern willen!

Wann beginnt Leben? Eine Diskussion zwischen drei Experten: Der Pater: „Nun, liebe Brüder, ich bin der Ansicht, dass das menschliche Leben bereits beginnt, wenn sich Vater und Mutter in Liebe zusammentun.“ „Na ja“, antwortet der evangelische Pfarrer, „das menschliche Leben beginnt, wenn die Samen- und Eizelle miteinander verschmelzen.“ „Nebbich“, meint der Rabbi, „menschliches Leben beginnt, wenn ist tot der Hund und sind aus dem Haus die Kinder!“

Aber wenn sie doch nicht gehen? Gehen wollen?

Die Ausbildungszeiten verlängern sich, Berufseinsteiger bekommen oftmals nur befristete Arbeitsverträge, die Wohnungsnot wächst, die Mieten steigen. 40 % der Studenten leben noch zu Hause. Und wer gibt schon einer jungen Studentin eine Wohnung? Die ja auch noch bezahlbar sein muss. Hinzu einer Studentin, die gar nichts an ihrer Wohnsituation verändern möchte. Laut einer Onlinestudie der LBS wollen 44% der Zwanzigjährigen an ihrem jetzigen Wohnort bleiben, weil sie ihr Lebensumfeld nicht aufgeben wollen.

Kein allein deutsches Problem. Kürzlich in Italien: Ein 41-jähriger Sohn, der sehr wohl bereits finanziell von seinen Eltern unabhängig war, und somit in Italien als „Mammone“ (Muttersöhnchen) tituliert wird, wollte sein Elternhaus nicht verlassen. Die Eltern wussten sich keinen anderen Rat mehr, nachdem sie wiederholt ihren Sohn zum Auszug aufgefordert hatten und die Mutter unter Erschöpfungszuständen litt, einen Anwalt zu konsultieren, der den 41-Jährigen nun vehement unter Androhung gerichtlicher Folgen aufforderte, das Elternhaus binnen sechs Tagen zu verlassen.

Ich höre mich im Freundeskreis um. „Ach, bei uns war das gar kein Problem. Fred bekam die Zusage für den Studienplatz in Marburg. Mit dem Sprinter hat er seinen Umzug erledigt.“ Oder: „Wieso sollte Jessica ausziehen? Sie hat gerade erst ihre Ausbildung abgeschlossen! Und wir haben Platz. Außerdem hat sie so einen netten Freund. Stell dir vor, erst gestern hat er mir meine neue Waschmaschine angeschlossen. Die läuft bei uns mehrmals täglich, du glaubst gar nicht, was ich jetzt an Wäsche habe. Die neue Trommel hat jetzt sogar 7 Kilo Fassungsvermögen ...“ Stopp, Moment. Es mag Menschen geben, die in einer neuen Waschmaschine ihr Glück finden, ich aber will keine größere Waschmaschine. Auch keine neue! Ich will mehr Platz im Keller haben, weil nämlich dann das Puppenhaus, die Barbie-Sachen und die Kinderbücher, die ich seit über zehn Jahren von einer Ecke in die andere räume, dann auch mit ausziehen dürfen. Und außerdem soll/muss das Kind doch mal selbstständig werden. Und selber waschen. Und überhaupt: Ich will zu jeder Tages- und Nachtzeit staubsaugen können!

Waren früher Generationskonflikte die Hauptursache für den Auszug aus dem Elternhaus, sind es heute meist ökonomische Gründe, dass junge Erwachsenen länger zu Hause leben. Jobben neben dem Studium wird aufgrund der veränderten Studiumsstrukturen immer schwieriger, größere Firmen stellen vermehrt fest, wie schwer es sei, studentische Aushilfskräfte zu verpflichten aufgrund des Zeitmangels der Studenten. Aber mangelnde Finanzkraft kann alleine nicht der Grund sein. Denn das hieße, dass die jungen Menschen nicht ausziehen können. Es ist viel schlimmer. Sie wollen nicht!

Wahrscheinlich waren wir zu gut zu unseren Kindern. Haben sie zu sehr verwöhnt. Machten es ihnen zu bequem. Waren zu tolerant. Wir ließen das Kind nicht im Kinder-, Jugendzimmer. Sondern finanzierten ihm spätestens zum 15. Geburtstag bei Ikea ein hippes „jungerwachsenes Zimmer“. Und sorgten in unserer Familie für Verhältnisse und eine Atmosphäre, die wir damals erst durch Flucht suchten.

Wir haben sie zur Selbstständigkeit erzogen, selbstredend, und sie leben ja auch ihr Leben, selbstständig und mitunter verantwortungsbewusst. Aber zu Hause müssen sie sich nicht mit Wlan-Problemen abplagen oder sich um den günstigsten Ökostromanbieter kümmern. Ganz abgesehen von solchen Fragen, wie sich der Kühlschrank füllt oder die Staubsaugertüte entleert. Das wussten wir damals auch nicht, aber wir wollten es wissen.

Sind wir nicht erst wirklich „gute Eltern“, wenn wir unsere Kinder überzeugen, dass es mit 22 Jahren nun wirklich an der Zeit sei auszuziehen? Das ist nicht nur gut für ihre Persönlichkeit und für ihre Zukunft wichtig. Nein, auch für unsere. Das ist mein gutes Recht nach über zwanzig Jahren, es gehört sogar zu einem Grundbedürfnis. Laut Grundgesetz, Artikel 2, Absatz 1, hat jeder das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, auch Eltern.

Aber wie sage ich meinem Kind, dass es erwachsen ist und von seinem Persönlichkeitsrecht Gebrauch machen soll? Soll ich drohen, dass wir es wie in der Schweiz halten könnten, wo Eltern beispielsweise einem Studenten der Germanistik für „Hotel Mama“ monatlich 700 Franken in Rechnung stellen könnten? Gewiss antwortet das Kind dann, dass das Geld dafür aber von mir kommen müsse. Früher, als das Kind noch Kind war, konnte man es autoritär eine Stunde zum Spielen nach draußen an die frische Luft schicken. Heute lautet der Satz jedoch: „Du gehst jetzt und kommst nicht wieder zurück.“

Herzlos? Aber raus muss der Satz. Das 22-jährige Kind sieht mich mit großen Augen an. „Ach Mama, habe ich das gar nicht erzählt? Ab nächsten Ersten habe ich eine Wohnung. Ich ziehe mit Jessica zusammen, die nervt die ewige Wäscherei ihrer Mutter und mich dein Staubsauger.“

Dann geht alles ganz schnell. Während ich mich auf einen monatelangen Abnabelungsprozess eingestellt hatte, hat das Kind seinen Auszug mit Freunden still organisiert. Das Kind plant und lacht, die Eltern staunen. Und auf einmal ist das Zimmer leer, alles weg, nicht einmal das Kuscheltier, das die letzten Jahre sein Dasein unter dem Bett fristen musste, ist vergessen worden. Das Kind ist jetzt in seinen eigenen vier Wänden, und die Eltern sind es auch. Für das Kind ist alles neu und aufregend, für die Eltern bleiben das leere Zimmer und die Wollmäuse.

Als wir seinerzeit von zu Hause auszogen, ließen wir alles da, das wohlbekannte Jugendzimmer, in dem wir uns bei den jeweiligen Besuchen im Elternhaus „einkuschelten“ und uns wieder als Kind fühlen konnten. Heute nimmt das Kind, bis auf die Wollmäuse, alles mit. Auch nicht recht. Die Tränen, die man beim Kind vermutete, sind jetzt die eigenen.

Ob Alkohol hilft? Beim ersten Glas Wein wird das ehemalige Kinderzimmer zur langersehnten Bibliothek, beim zweiten stellt man virtuell das Fitnessgerät, das im Keller hinter den Barbie-Kartons zum Vorschein gekommen ist, hinein. Nach dem dritten Glas, ist man gedanklich schon bei einem Speisesaal, damit auch wirklich alle Platz haben, an dem großen Tisch, wenn das Kind dann mit seiner eigenen Familie am Wochenende sonntags zum Essen kommt.

Schon will sich ein wohliges Gefühl breitmachen, da bleibt der Blick an einer Headline hängen: „Adult children living at home“. Der neueste Trend in Amerika sind die „Boomerang Kids“. Sechs Millionen Amerikaner zwischen 25 und 34 Jahren leben derzeit bei ihren Eltern, Grund hierfür ist die Rezession. Das Einkommen ist in den letzten Jahren um circa 7 Prozent gesunken, gleichzeitig sind die Lebenshaltungskosten gerade in den Metropolen um bis zu 18 Prozent gestiegen.

Der Schreck sitzt tief. Ein Blick auf die Homepage www.adultchildrenlivingathome.com bringt noch erschreckendere Zahlen. 25 Millionen erwachsene Kinder (20–49 Jahre), die zurückgekehrt sind, oder das Elternhaus nie verlassen haben, leben in den USA bei ihren Eltern. In Kanada leben 44 Prozent der 20- bis 29-Jährigen noch zu Hause. Und natürlich darf hier der Hinweis nicht fehlen, dass in dem Ratgeber, den man für 27,97 $ per Mausklick bestellen kann, alle Ratschläge aufgezählt werden, wie Eltern mit der Situation umgehen können. Ob man das vorsorglich schon einmal bestellen sollte? Es wäre nur ein Klick und vielleicht gut investiertes Geld, denn dann wüsste man, wie das dann mit dem Staubsaugen zu regeln sei.

Da klingelt das Telefon. „Du, Mama, jetzt ist alles fertig. Willst du nicht mal vorbeikommen? Ach ja, und bitte bring doch den Staubsauger mit, ja?“

Danela Pietrek

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