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Politik: Neun Leben

Von Ursula Weidenfeld

Das kann niemand verstehen, erklären oder klug analysieren. Die Frau, die mutmaßlich neun ihrer neugeborenen Kinder getötet hat, ist keine geistesgestörte Mutter. Sie ist nicht nur Alkoholikerin. Sie ist keine allein durch Wiedervereinigung und Kapitalismus aus allen sozialen Zusammenhängen Gefallene. Etwas von alledem mag zwar zutreffen und ihre Persönlichkeit und Biografie beleuchten. Aber nichts davon sagt, warum das Verbrechen verübt wurde, warum es geschehen konnte.

Neun kleinen Kindern wurde das Leben genommen, vermutlich direkt nach der Geburt. Sie wurden um ihre Lebensfreude gebracht, wurden ihrer Chancen beraubt. Das ist unfassbar. Wie soll man es nennen? Es ist mehr als ein Verbrechen, es ist: eine große Tragödie.

Nebenan wuchsen drei Kinder derselben Mutter heran, sie sind heute fast erwachsen. Polizei und Staatsanwaltschaft sagen, dass diese Kinder sich normal und erfreulich entwickelt haben. Vielleicht hat die Frau in den vergangenen Jahren noch einmal einen Anlauf genommen, ihr Leben wenigstens ansatzweise in Ordnung zu bringen. Es gibt die Scheidung nach jahrzehntelanger zermürbender Ehe, einen neuen Freund, ein weiteres Kind. Es darf dableiben. Seine getöteten Geschwister haben diese Chance nie gehabt – sie haben das Leben nie in Besitz nehmen dürfen.

Psychologen, Sozialarbeiter, Kriminalbeamte und Mediziner werden in den kommenden Wochen alle die gesellschaftlichen Aspekte aufzählen, die so auf Sabine H. lasteten, dass sie ihre Kinder nicht behalten wollte. Sie werden über Verwahrlosung und Verdrängung sprechen, über desolate Familienverhältnisse, Abstumpfung, Angst und Not. Sie werden sagen, dass Mütter, die direkt nach der Geburt töten, oft nicht wissen, was sie tun. Sie werden über Alkohol und familiäre Zerrüttung im Leben der Verdächtigen sprechen. Und sie werden auch fragen, welchen Einfluss das Leben und das Arbeitslossein in Brandenburgs Randgebieten hat – in Regionen, die so roh, vereinzelt und dunkel wirken können wie kaum andere Gegenden in diesem Land.

Dennoch: Wie kann eine Familie, wie können Nachbarn, Angehörige und die eigenen Kinder immer wieder übersehen, dass eine Frau schwanger ist, aber nie ein Kind gebiert? Wie ist es möglich, dass Menschen zusammenleben, ohne etwas gesehen und bemerkt zu haben? Und wenn sie schon das alles nicht sehen wollen oder sehen können: Müssten sie nicht bemerken, dass eine Frau ganz offensichtlich nach und nach aus allen ihren Zusammenhängen rutscht, nicht arbeitet, ihr auch das eigene Leben entgleitet? Müssten sie nicht alarmiert sein, wenn eine Frau, die als intelligent und religiös erzogen beschrieben wird, nach und nach verwahrlost, wenn sie trinkt und herumzieht? Daran kann man doch nicht vorbeisehen. Auch bei schlechtestem Willen nicht.

Es wird keine klaren Antworten geben. Es kann keine geben. Tatsache ist wohl, dass es in diesem Land zu viele solcher Lebensläufe gibt, um im Einzelfall so aufmerksam, hilfsbereit und fürsorglich zu sein, wie es nötig wäre. Das gilt für das nächste, das privateste Umfeld. Es gilt für die Nachbarn, das Jugendamt. Die Frau sagt in ersten Vernehmungen, sie habe gehofft, wenigstens von ihrem eigenen Mann auf eine ihrer Schwangerschaften angesprochen zu werden. Und sie sei froh, dass es nun vorbei ist. Das ist wohl das einzige Gefühl, das man in diesem Zusammenhang versteht.

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