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Politik: Nicht nur die Parteigenossen tragen Schuld

Wenn ich als Frau eines in Haft befindlichen Parteigenossen und Mutter von vier Söhnen um Gehör bitte, so geschieht es, weil ich mit all meiner seelischen Not allein nicht mehr fertig werden kann. Nach 25jähriger Ehegemeinschaft bin ich in einer Zeit, in der gerade für uns die wahre Einsicht am nötigsten ist, auf mich selbst gestellt.

Wenn ich als Frau eines in Haft befindlichen Parteigenossen und Mutter von vier Söhnen um Gehör bitte, so geschieht es, weil ich mit all meiner seelischen Not allein nicht mehr fertig werden kann. Nach 25jähriger Ehegemeinschaft bin ich in einer Zeit, in der gerade für uns die wahre Einsicht am nötigsten ist, auf mich selbst gestellt. Der Anblick meiner Kinder mahnte mich, nach etwas zu suchen, das mich ihnen erhielt, und meine Pflichten so zu erfüllen, daß ich es einmal wieder wagen darf, offenen Blickes in die Welt zu sehen. Da waren es die Zeitungen, die mir Hilfe und Trost brachten. Es ist oft sehr schwer für mich, Sprache und Sinn richtig zu erfassen, und ich muß jeden Abschnitt immer wieder lesen. Wenn ich mit dem Gelesenen mich dann gedanklich auseinandersetze, ist es, als weiche ein Druck von mir. Ich erkenne meine Schuld und sehe den Weg, ihr zu begegnen.

Irma Tismar, BerlinMariendorf,

15. November 1945

Ich war sechs Jahre Soldat. Ich erlebte in meinem Urlaub die schwersten Bombenangriffe in Berlin und sah mit Erstaunen, wie trotz großer Schäden und zerstörter Verkehrsmittel alles zur Arbeit strömte und damit aktiv Hitler unterstützte. So auch in den letzten Kampftagen vor dem Zusammenbruch. Während kleine Städte, wie z.B. Stendal, sich ohne einen Schuß ergaben, kämpfte Berlin bis zum letzten Hitlerjungen. Jeder Deutsche muß das Bewußtsein haben, einen bedeutenden Teil Mitschuld und Mitverantwortung für den Krieg und seine Folgen zu tragen. Ihr Teil Schuld tragen alle jene deutschen Männer und Frauen, die willenlos und widerstandslos zusahen, wie Hitler die Macht an sich riß.

Willi Janiak, Berlin-Pankow,

29. November 1945

Ein nach Millionen zählendes Volk versagte! Eine Tatsache, die mich immer wieder mit Erstaunen und Entsetzen erfüllt. Aber auf diesem Weg stoßen wir auf die Ursache unseres Versagens. Es ist Degeneration im schwersten Stadium. Und wodurch wurde sie bewirkt? Durch den preußischen Kommandoton, durch das Schweigen, das Gehorchen, das, jahrzehnte-, jahrhundertelang geübt, zur Denkfaulheit und damit zur Verdummung führte. Dünkel, Hochmut und Intoleranz sind auch nur Formen der Verdummung, deren Schlußakt nun die unsägliche Tragödie unter Hitler wurde. Unser Unglück ist eine Naturkatastrophe. Das Hitlersche Gift wirkt auch in gewissen Antinazis „munter“ fort, das geht zudem auch in wieder anderer Weise aus dem Ausspruch junger Mädchen hervor, die ich sagen hörte: „Wir brauchen einen starken neuen Führer.“ Was wir brauchen, ist Demokratie, Humanismus, ist eigenes Denken!

Heinz Wachsmuth, Saalow,

11. Dezember 1945

Wenn alles nach dem Willen Hitlers verlaufen wäre, hätte jeder Deutsche kämpfen und sich dann das Leben nehmen müssen. Die große Zahl der „Ueberlebenden“ beweist, daß die Masse des Volkes ihrem „Führer“ auf dessen Wege nicht gefolgt ist. Aber es ist bezeichnend, daß in weiten Kreisen unseres Volkes noch nicht jene Einstellung zu finden ist, die Reue hinsichtlich der Vergangenheit oder ein Verständnis für die verhängnisvolle Politik der ehemaligen nationalsozialistischen Führung bewiese. Ein solches Eingeständnis scheint der deutschen Mentalität nicht zu liegen.

Dr. Anton Weninger, Berlin-Wilmersdorf, 18. Juli 1946

Brauchen wir uns zu wundern, daß bei der jetzt so betonten Kollektivschuldlosigkeit der Deutschen die ganze Welt hellhörig, mißtrauisch und ablehnend reagiert? Zuerst kommen die Leute der deutschen Widerstandsbewegung und alle, die unberechtigt dazu gezählt werden möchten und sagen, daß sie nicht mitschuldig sind. Dann kommen die Nichtnationalsozialisten und Unbelasteten und sagen, wir dürfen keinesfalls als mitschuldig betrachtet werden. Die Mitläufer und Entlasteten werden jede Mitschuld bestreiten. Was bleibt dann von der deutschen Schuld noch übrig? fragt mit Recht das Ausland.

Ernst Oehlschläger, Berlin-Zehlendorf, 19. Januar 1947

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