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Almere

© Maritius Images

Niederlande: Auf Wasser gebaut

Almere ist die jüngste niederländische Stadt, hochgezogen im Überschwemmungsgebiet. Vor der Flut fürchtet man sich hier besonders – und vor kultureller Überfremdung. Seit dem Erfolg von Geert Wilders’ "Freiheitspartei" bei den Kommunalwahlen ist die Polderstadt ein Modellfall.

Glas, Beton und Angst: mit diesem Dreiklang begrüßt Almere dieser Tage den Besucher. Glas, das sind die Fensterfronten neuer Bürotürme hinter dem Bahnhof, die sich steil 20, 30 Stockwerke in den verhangenen Himmel von Flevoland schrauben. Beton, das ist die Stadt im Polder selbst, die man als permanente Baustelle kennt. Kräne und Bagger, ihre heimlichen Wahrzeichen, finden sich überall. Und die Angst, sie hängt am Bauzaun. Vor den Wolkenkratzern. Wie nach jeder Wahl sind die Plakate noch nicht wieder entfernt, auf denen Lokalpolitiker jeder Couleur ihre Slogans präsentieren. Doch die Porträts sind diagonal überklebt mit einem weißen Streifen, auf dem nicht etwa „Danke für Ihre Stimme“ steht, sondern: „Wählst du aus Angst oder aus Überzeugung?“

Ein paar Ecken weiter, am Busterminal, stehen vier Uniformierte auf einer Verkehrsinsel. Eine Frau und drei Männer, ihre Dienstkleidung: dunkelblau. Mit misstrauischem Blick sondieren sie das Terrain. Freitag Mittag, Schüler aller Altersstufen strömen nach Hause, schwarze, weiße, in die Busse, zu den Nahverkehrszügen. Die vier Sicherheitsbeamten des Verkehrsverbands sind alarmbereit. Warum? Agent Jeroen, nennen wir ihn so, holt aus. „Die Züge dort“, und er nickt Richtung Gleise, „kommen aus Amsterdam.” Seine Augen weiten sich bedeutungsvoll, als er die Hauptstadt erwähnt. „Verhältnisse wie in Amsterdam“, das hörte man oft in den letzten Wochen, bedrohten Almere. Die Zugstrecke zwischen beiden Städten, sagt Agent Jeroen, ist als „Risikolinie“ eingestuft: Belästigungen, Bedrohungen, Beschwerden. Die Fahrt dauert 20 Minuten. Und so sind er und seine Kollegen längst nicht mehr nur Kontrolleure, sondern halten auch die Stellung, wo Zug- und Busverkehr ineinandergreifen.

Die Angst geht um in Almere, seit mehr als zwei Jahren schon. Von 2007 bis 2009 kam es zu einer Reihe bewaffneter Überfälle. Ziel waren Supermärkte, Friseure, ein Zigarrenladen, selbst ein Pizzakurier, weil sich überall Bargeld vermuten ließ. Die Lage hat sich beruhigt, die Täter sind verurteilt, doch die Angst ist geblieben, in den Köpfen, in Gesprächen. Nun soll Almere die sicherste Stadt der Niederlande werden. Dafür sorgen will Geert Wilders. Er ist der umstrittenste Politiker der Niederlande.

Mehr als 17 000 der fast 190 000 Almeerders, wie die Bewohner genannt werden, trauen Wilders und seiner Partij voor de Vrijheid zu, ihnen ihre Furcht zu nehmen. Da die Wahlbeteiligung eben über 55 Prozent lag, reichte es zwar nicht für die Mehrheit, doch zog die „Partei für Freiheit“ (PVV) letzte Woche als größte Fraktion in den neuen Stadtrat ein.

Seitdem fragt man sich in Europa, wie das geschehen konnte. Was macht einen nationalistischen Populisten wie Geert Wilders so stark? Warum ist ausgerechnet Almere zur Hochburg der PVV geworden? Und was lehrt ein fulminanter Wahlkampfauftritt von Wilders wenige Tage vor dem Urnengang? Das Publikum geht begeistert mit, die Klänge von „The Eye of the Tiger“ peitschen auf. Krachende Becken, Dam-dam-dam. So schallen die Brachialakkorde aus den Boxen. Und Brachiales hat auch er im Gepäck: Beamte entlassen! Und das Geld investieren in „Stadtkommandos“, nicht näher spezifizierte Sondereinheiten. Dam-dam-dam. Härter vorgehen gegen „kriminelles Pack”! Dam-dam-daaah. Und die Polizei, „vom Schreibtisch und Computer weg und, hopp, auf die Straße“! Standing Ovations sind Wilders’ Lohn. Wie aus dem Lehrbuch eines Demagogen geht es weiter. Schlussakkord, die Prophezeiung: „Leute, es hängt was in der Luft. Holt mal tief Atem. Ihr könnt es riechen. Es ist der Geruch des Sieges.”

Songs wie „Eye of the Tiger“, die Erkennungsmelodie des Boxers Rocky Balboa, quillen täglich aus den Radiosendern der Region. Sie werden gehört im Stau, auf dem Weg zur Arbeit im Großraum Amsterdam, jenseits der Hollandse Brug, die den Ijsselmeerpolder mit dem Rest des Landes verbindet. Eine Schlafstadt ist Almere und jung. Gegründet 1975, um die überquellenden Metropolen drüben zu entlasten. Die Amsterdamer, die sich in der dem Ijsselmeer abgerungenen Provinz niederließen, waren des urbanen Lebens in kleinen Wohnungen müde, der Unübersichtlichkeit, des Lärms, der Drogen. „Häuschen, Bäumchen, Tierchen“ nennt ein niederländischer Ausdruck den Traum vom einfachen Leben im Eigenheim, und hier, in der Weite des Polders, ließ er sich verwirklichen.

„Entstanden aus nichts als Wasser“, erzählt eine Tafel die Geschichte der jüngsten Stadt der Niederlande. Alte Filmaufnahmen zeigen aufgeregte Besiedelungspioniere auf der Busfahrt in ihr Atlantis. Mit Regenschirmen ausgerüstet, stapfen sie unerschrocken durch die windige Ödnis und besehen sich enthusiastisch ihre neuen Häuser. Ein Sprecher erläutert: „Die Schlüssel eröffnen ihnen eine neue Lebenswelt“.

Übergeben hat die Schlüssel damals Willem de Graaf, der bei der frisch geschaffenen Kommune als Fahrer angestellt war. De Graaf war selbst ein Landgewinnler, ursprünglich aus Scheveningen, 25 Jahre lang zur See gefahren, 18 mal um die Welt. Seine Augen strahlen, wenn er von seinen Lieblingsorten spricht: Rio de Janeiro, Suezkanal, Panama. Dass es ihn, als er nach einem Unfall für immer an Land ging, nach Almere verschlug, an diesen Triumphort über das Meer, findet er nicht tragisch: „Hier bekam ich eine Stelle als Beamter.“ Heute ist Willem de Graaf 76 und lebt noch immer in Almere Haven, dem ältesten Stadtteil. Wenn er auf seinem Scootmobil durch den Ortskern fährt, erkennt er die kleinen Erhebungen, auf denen in den Sechzigern in einem ersten Besiedelungsschritt Halligen entstanden. Die Straßen heißen Schulwerft, Gute Werft, Weiße Werft. Zweigeschossige Häuser aus dunklem Backstein stehen hier, mit blauen Fenstern und Außentreppen. Dicht am Wasser einer Gracht sitzt eine Katze einsam im Nieselregen. Willem de Graaf gefällt es hier: „Wir sagen immer, wir wohnen auf dem Dorf.“

Der Gegenentwurf zum Dorf heißt Almere 2.0, ein Stadtentwicklungsplan mit großen Ambitionen: eine Hochschule, 60 000 Wohnungen, 100 000 Arbeitsplätze sowie eine Bewerbung als Europäische Kulturhauptstadt 2018. Doch Almere kann wachsen so viel es will, auf der anderen Seite der Brücke wird es belächelt als „hässlichste Stadt der Niederlande“. Und dann kommt Wilders, was für ein Schmeichler: „Almere, diese prächtige Stadt“, säuselt er, der selbst aus der Peripherie kommt, aus Venlo an der deutschen Grenze. Aus Limburg, der ärmsten der zwölf Provinzen, gerne verspottet als „Limbabwe“. Das weich ausgesprochene G des Südens klingt auch bei ihm durch, und wie viel Abschätziges wurde nicht geschrieben über das Peroxid-Laboratorium auf seinem Kopf!

Aber an Künstlichkeit stößt man sich in Almere nicht. Als Wilders in der Wahlnacht erneut vor einem frenetischen Publikum steht, spricht er von der „prächtigen Stadt“. „Geweldig“ findet er es, wieder hier zu stehen, „im neuen Land“. Das Ziel sei erreicht, Almere gewonnen, ein Anfang gemacht. Im Café Get Down in einer nobleren Seitenstraße des Grote Markt holt Wilders mit dem rechten Zeigefinger aus: „Dies ist das Sprungbrett. Heute Almere und Den Haag, morgen“, er lässt den Finger nach vorne schnellen, „morgen die ganzen Niederlande“.

Almere ist der Modellfall. Hier will der 46-jährige Wilders, ein ehemaliger Versicherungsangestellter, zeigen, dass er mehr als der Paria im niederländischen Parteiensystem ist. Denn seine Ausfälle gegen Muslime, seiner Forderung, den Koran zu verbieten, „Kopflumpen“ zu besteuern, keine Moscheen mehr zu bauen, machen ihn zum Außenseiter. Wilders verschreckt das politische Establishment. „Die Niederlande von der linken Elite zurückerobern”, ruft Wilders am Wahlabend seinen Anhängern in Almere zu.

Obwohl hier Kopftücher nur vereinzelt Einzug gehalten haben, will die PVV sie in städtischen Einrichtungen verbieten, ebenso wie Halalgerichte. Denn im Polder ist man empfänglich für die Gefahr, überschwemmt zu werden. 140 Nationalitäten leben hier inzwischen. Überfluten sie nicht, was man für niederländische Tugenden hält? Die Almeeder könnten auch den Traum von einer dörflichen Urbanität fortgespült sehen.

Als Projektionsfläche für die Angst bietet sich die Siedlung Stedenwijk abseits des Zentrums an. Eintönige Straßenzüge mit niedrigen Einfamilienhäusern aus schmucklosem Klinker erinnern an Arbeiterviertel in Großbritannien. Torbögen bieten Jugendlichen Unterschlupf vor dem Regen. An den Wänden prangen Thugs-Zeichen als Inschriften eines imaginären Gettos. Eine marokkanische Bäckerei hat schon geschlossen, in den Telefonladen tröpfeln ab und an Kunden. Antillaner, Nordafrikaner, Surinamer. Draußen bricht die Dämmerung an. Es gibt Bewohner, die die Straße um diese Zeit meiden. Und erst recht die Haltestelle Stedenwijk Midden genau vor dem Telefonladen.

Niwar hält das für Panikmache. Der 20-jährige Iraker betreibt seit fünf Jahren mit Vater und Bruder den Laden. „Hier ist noch nie etwas passiert.“ Vielmehr wirft er der Polizei ständige Kontrollen und Schikanen vor. Niwar ist ein bedächtiger Zeitgenosse, der seine Sätze ruhig abwägt. Ihm schwant nichts Gutes. Die Stimmung ändere sich. „Ich höre es von meinen Kunden. Es gibt Jungs, die Holländer hassen. Und jetzt die PVV hier. Ich habe Angst vor Krawallen.“

48 Stunden nach Wilders Kommunalerfolg schreibt eine Regionalzeitung, der Wahlsieg der PVV entzweie sogar Ehepaare. Da sind Jan und Kitti, beide Ende Fünfzig, die ihr Feierabendbier trinken. Kitti fürchtet, dass das Klima sich verhärte. Sie hat nicht PVV gewählt. „Dann bekommen wir Rassendiskriminierung.“ Für Jan dagegen hat die Diskriminierung längst begonnen, wo Ausländer Leistungen nachgeworfen bekommen und Weiße zur Sozialküche müssen. Er hat Wilders gewählt.

Der Polderjugend, schwarz oder weiß, ist das politische Gezänk einerlei. Ihr ist nach Amsterdamer Verhältnissen. Am Bahnhof zwängt sie sich durch die Absperrungen, die den Zugang zu den Gleisen begrenzen. Sicherheitsleute der Bahn lassen sich die Tickets zeigen. Und so fahren die Jugendlichen in Scharen für eine Nacht in die Stadt zurück, aus der ihre Eltern das Weite suchten. Vorbei an der Kontrolle, rauf auf die Rolltreppe, rein in die Risikolinie.

Dimitri Krasniecko[Almere]

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