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Politik: Nordirland: Schwere Krawalle vor Paraden

Katholische Eltern und ihre Kinder sind am Donnerstagmorgen in Belfast erneut von protestantischen Nachbarn daran gehindert worden, zur Volksschule des Hl. Kreuzes im Nordteil der nordirischen Hauptstadt zu gelangen.

Katholische Eltern und ihre Kinder sind am Donnerstagmorgen in Belfast erneut von protestantischen Nachbarn daran gehindert worden, zur Volksschule des Hl. Kreuzes im Nordteil der nordirischen Hauptstadt zu gelangen. In der Nacht davor hatte das Viertel gewalttätige Krawalle erlebt. 39 Polizeibeamte wurden verletzt, als sie versuchten, die Streitparteien zu trennen. Über hundert Brandsätze wurden geworfen, Bierfässer von Dächern gerollt, die paramilitärischen Muskelmänner beider Seiten schmissen Rohrbomben oder schossen mit scharfer Munition. Der verantwortliche Polizeioffizier sprach von den "schlimmsten Unruhen seit Jahren", was allerdings leicht übertrieben schien.

Nord-Belfast gilt seit langem als ein Seismograph der politischen Befindlichkeit Nordirlands. Dort verzahnen sich protestantische und katholische Wohngebiete so eng, dass praktisch eine riesige Mauer durch die Hinterhöfe und Gärten gezogen wurde. Demografische Verschiebungen lösen Überdruck aus, wechselt eine Häuserzeile die konfessionelle Seite, kommt es als Folge zu Handgreiflichkeiten. Die katholische Heiligkreuzschule liegt inzwischen im protestantischen Territorium und wird somit zu einer Geisel - für katholisches Wohlverhalten.

Die offene Straßengewalt scheint von der gegenwärtigen politischen Aussichtslosigkeit begünstigt worden zu sein: Nordirlands Chefminister David Trimble hat seinen Rücktritt auf den 1. Juli angekündigt, wenn die katholische Terrororganisation IRA bis dann nicht mit ihrer Abrüstung begonnen hat. Am Mittwochabend nun ließ ein anonymer IRA-Gewährsmann bei Rundfunkstationen in Dublin und Belfast durchsickern, die IRA werde sich nicht an Trimbles Ultimatum halten. Die Waffenfrage sei zwar lösbar, aber nicht "zu britisch-protestantischen Bedingungen".

Die britische und die irische Regierung suchen seit Wochenbeginn nach einem Ausweg. Die Entwaffnung der Paramilitärs beider Seiten, der Abbau britischer Truppen und die Polizeireform müssten gleichzeitig einvernehmlich angegangen werden, um das Friedensabkommen und die nordirische Regierung wieder auf eine tragfähige Grundlage zu stellen. Das Ergebnis der britischen Unterhauswahlen in Nordirland hat Trimble indessen so geschwächt, dass er diesmal nicht einlenken kann. Zudem muss er sich am Samstag seinem eigenen Parteirat zur Wiederwahl stellen. Umgekehrt ist die mit der IRA verbundene Sinn-Fein-Partei massiv gestärkt aus der Wahl hervorgegangen; sie bildet erstmals die größte Partei im katholisch-nationalistischen Lager.

Manche Beobachter meinten, die Sinn Fein habe mit ihrem Wahlerfolg den erforderlichen politischen Spielraum erworben, um die Entwaffnung zu beginnen. Doch dies ist bislang ausgeblieben. Die Lage bleibt weiter durch ein Paradox gekennzeichnet: Alle Parteien mögen zwar die Selbstverwaltung, niemand will aber die nötigen Konzessionen machen, die eine Fortführung der Regionalregierung erlauben. Die nächsten Tage werden eine hektische Betriebsamkeit bringen, denn wenn Nordirlands politisches System unmittelbar vor dem Höhepunkt der protestantischen Paraden-Saison zerbröselt, werden in der Provinz unkontrollierbare Kräfte entfesselt.

Martin Alioth

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