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Politik: Ohne Gegengift

Den Geiseln wurde zu spät geholfen, sagt eine Ärztin – ein Chemie-Experte glaubt, dass ein geheimes Kampfgas zum Einsatz kam

Bei dem Ende des Geiseldramas in Moskau ist offenbar nicht alles so glatt gelaufen, wie die russische Regierung es darstellen will. Die Ärzte seien erst vor Ort über das eingesetzte Gas informiert worden, sagt Olga Sarpowa, die an der Evakuierung der Geiseln teilnahm, im russischen Dienst des US-Auslandssenders „Radio Liberty“. Sie hätten nur eine „Sammlung von allgemeinen Gegengiften“ mitgenommen, die zunächst nicht gereicht hätte. Gesundheitsminister Jurij Schewtschenko dagegen hatte von über 1000 Einzeldosen eines konkreten Gegengiftes gesprochen, die vor Beginn der Operation ausgegeben wurden: Nalaxon, das die Wirkung von Fentanyl – laut Schewtschenko der Wirkstoff des versprühten Gases – aufhebt und bei Komplikationen sofort verabreicht werden muss.

Der Sturm auf das Theater begann 5 Uhr 45, die Notärzte aber, so Sarpowa, waren erst um 6 Uhr 30 vor Ort. Das Gegengift wurde den ersten Geiseln daher frühestens 45 Minuten nach Beginn der Gasattacke gespritzt, vielen erst Stunden später im Krankenhaus. Die Mehrheit der Geiseln, so die Ärztin weiter, sei bereits im Konzerthaus gestorben. An Atemdepression, also durch Erstickung. „Wir haben zuerst all diejenigen geborgen, bei denen noch irgendwelche Anzeichen von Puls und Atmung da waren“, sagte Sarpowa.

Fentanyl fällt in die Kategorie Betäubungsmittel. Der Chemiewaffenexperte Lew Fjodorow dagegen spricht ausdrücklich von einem chemischen Kampfstoff, den sowjetische Militärs in den Siebzigern entwickelt hätten. Fjodorow, ein habilitierter Chemiker, war bis zum Ende der Sowjetunion an einschlägigen Forschungsprogrammen beteiligt, gründete dann das Forschungszentrum für chemische Sicherheit und gilt als einer der hochkarätigen unabhängigen Chemiewaffen-Experten. Er ist sich sicher: „Es ist weder Fentanyl noch Golotan. Vor die Wahl gestellt, hat der Gesundheitsminister nach dem ersten Begriff wie nach einem Rettungsanker geschnappt.“ Fjodorow glaubt nicht, dass ein Betäubungs- oder Narkosemittel in das Theater eingeleitet worden ist. „Die Militärs brauchen das nicht, sie haben immer ihr eigenes Süppchen gekocht“, sagte er. „Es war ein Giftstoff, der zum Einsatz bei militärischen Operationen entwickelt wurde und an dem sie über dreißig Jahre gebastelt haben. Einer, der nicht unter die Sperrverträge fällt. Weitere Details kann ich Ihnen nicht sagen, ich habe keine Lust, wegen Landesverrat belangt zu werden.“

Der Kampfstoff, so Fjodorow, sei entwickelt worden, um „Menschen ohne Narkose und Nachwirkungen zeitweilig außer Gefecht zu setzen“ und sei mehrfach getestet worden. Wladimir Petrenko aus Saratow an der Wolga berichtet sogar von Menschenversuchen, denen sich junge Offiziere der chemischen Dienste unterziehen mussten. Er selbst, damals Leutnant, trug bleibende Schäden davon. Die Menschenversuche bestätigte auch Chemiewaffenexperte Fjodorow. Die damals geringe Quote von Überreaktionen bei Risikopersonen sei beim Sturm des Konzerthauses jedoch vernachlässigt worden, die Dosierung habe sich zwangsläufig an maximaler Resistenz orientiert, um die Geiselnehmer zuverlässig außer Gefecht setzen. Fjodorow wörtlich: „Militärs denken nicht an konkrete Menschen, sondern in Prozenten.“ Dennoch macht auch Fjodorow das Chaos für die vielen Opfer verantwortlich. „Viele würden noch leben, wenn die Planer zuerst gedacht und dann gehandelt hätten“.

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