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Politik: Ohne Parlament und ohne Staatschef

Nach den gescheiterten Wahlen droht Serbien eine Verfassungskrise

Das fortschrittliche Serbien ist in Katerstimmung: Die Wahlen am Sonntag haben wegen mangelnder Beteiligung zwar keinen Präsidenten hervorgebracht, ihr Resultat ist dennoch eindeutig. Der Kandidat der ultranationalistischen Serbischen Radikalen Partei, Tomislav Nikolic, erhielt 46 Prozent der Stimmen und überrundete damit Dragoljub Micunovic, den liberalen Kandidaten der DOS-Regierungskoalition um gut zehn Prozentpunkte. Die Rundfunkstation B92 sprach von einem „Schocksieg" der Nationalisten: Das Scheitern der Wahlen war erwartet worden, nicht aber die Niederlage des populären Micunovic. Dieser sprach von einer „Niederlage für Serbien", womit er nicht nur das Wahlresultat, sondern auch die schädlichen Boykottaufrufe eines Teils der Opposition meinte.

Während sich einzelne DOS-Führer besorgt über das erneute Scheitern der Wahl und den Erfolg der Radikalen äußerten, versuchte Ministerpräsident Zoran Zivkovic die Wogen zu glätten: Es gebe keine Verfassungskrise, sagte er. Und forderte, die Wahlresultate nun zuerst zu analysieren. Zivkovic steht mit seinem Zweckoptimismus ziemlich allein: Serbien hat zurzeit weder ein Parlament – es wurde letzte Woche aufgelöst – noch hat es einen Präsidenten. Und die Legitimität der jetzigen Regierung ist nach Micunovics Niederlage schwächer als je zuvor.

Der Wahlausgang ist in erster Linie der Todesstoß für die DOS-Koalitionsregierung, ein heterogenes Vielparteienbündnis. Das DOS-Popularitätshoch unmittelbar nach der Ermordung von Ministerpräsident Zoran Djindjic im März ist ungenutzt verpufft. Heute bezeichnen sich 40 Prozent der Bevölkerung als Verlierer der Umgestaltung, 40 Prozent spüren keine Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse und nur 20 Prozent wähnen sich auf der Gewinnerseite. Damit lässt sich der Misserfolg Micunovics erklären, aber noch nicht der Erfolg Nikolics. Ein Grund dafür ist die wieder erstarkte Mobilisierungskraft der Ultranationalisten. Nikolic hat in seinem Wahlkampf den „gnadenlosen" Gang der Wirtschaftsreformen gegeißelt. Der individuellen Profitgier stellt er die Solidarität der Serben gegenüber, die auch darin bestehen soll, dass die Auslieferung angeblicher Kriegsverbrecher nach Den Haag gestoppt werden müsse.

„Herausforderung angenommen!" prangt groß seit Milosevics Sturz auf dem Internetportal der Regierung. Die aufgeschreckte DOS-Koalition wird sich vor den Parlamentswahlen neu gruppieren. Aber nicht nur die DOS-Parteien, sondern alle demokratischen Kräfte – und diese sind in Serbien in der Mehrheit – müssen sich zu einem Minimum an politischer Streitkultur durchringen.

Andreas Ernst[Belgrad]

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