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Hartmut Hüsges pflegt seit Jahren seinen Mann, der beim Anschlag am 19. Dezember 2016 schwer verletzt wurde.

© Mike Wolff

Opfer des Breitscheidplatz-Attentats und ihre Angehörige: „Wir hatten unser Leben anders geplant“

Zwölf Tote, mehr als 100 Verletzte, Tausende leidende Angehörige: Das Attentat hat viele Menschen aus der Bahn geworfen.

Von Sandra Dassler

Einmal am Tag heben die Pfleger Sascha Hüsges aus dem Bett und setzen ihn für eine Weile in den Rollstuhl. „Er kann inzwischen sogar kundtun, wenn es ihm zu viel wird“, sagt Hartmut Hüsges: „Dann deutet er sehr vehement mit den Augen in Richtung Schlafzimmer, und alle wissen, dass er ins Bett zurück möchte."

Es sind diese für einen Außenstehenden klein anmutenden Fortschritte, die Hartmut Hüsges ein wenig Mut machen: Dass sich Sascha so unglaublich freut, wenn er hört, dass seine Mutter ihn besuchen kommt. Oder dass er – nach drei Jahren Training – wieder besser schlucken kann. Und vielleicht irgendwann keine Magensonde mehr braucht.

Der Schmerz bleibt. „An diesem 19.Dezember 2016 hat sich unser Leben radikal geändert“, sagt Hartmut Hüsges. Dabei wollte Sascha, sein Ehemann, mit dem er seit 27 Jahren zusammenlebt, nur helfen. „Der Lastwagen, mit dem Anis Amri den Anschlag verübte, war da ja bereits zum Stehen gekommen“, erzählt er. „Sascha lief los, um seine Hilfe anzubieten, kam aber kurz darauf zurück, weil ihn etwas am Kopf verletzt hatte. Was genau, konnte er nicht sagen, er war schon zu benommen.“ Kurz darauf fiel Sascha Hüsges ins Koma. Schwebte lange zwischen Leben und Tod und wird, ohne ein Wunder, ein Schwerstpflegefall bleiben.

Der Terroranschlag vom Breitscheidplatz hat viele Menschen aus der Bahn geworfen. Zwölf Tote hat das Attentat gefordert, mehr als 100 Menschen wurden psychisch oder physisch verletzt, Tausende Angehörige sind betroffen. „Eigentlich war ich davon ausgegangen, dass er mich später einmal unterstützt“, sagt Hartmut Hüsges halb im Scherz. „Schließlich bin ich 16 Jahre älter.“

Dass der 63-Jährige nun gemeinsam mit dem Pflegedienst seinen Mann betreut, ist für ihn aber selbstverständlich. „Nach dem Anschlag, als ich nicht wusste, was wird, riet mir der Pfarrer meiner Berliner Gemeinde, mich mit den möglichen Szenarien auseinanderzusetzen – auch mit dem Worst Case – und „Lösungen“ zu durchdenken. Das habe ich getan. Und war wenigstens vorbereitet, als tatsächlich der Worst Case eintrat.“

Deshalb habe er sich auch nie mehr die Frage gestellt, ob er seinen Mann betreuen will, sondern nur noch, wie das am besten möglich ist. Hartmut Hüsges leitet das Referat Steuerschätzung im Bundesfinanzministerium, ist also beruflich stark eingebunden. „Ich bin dankbar, dass ich das zumeist von Bonn aus tun kann“, sagt er. Denn als Sascha aus dem Krankenhaus entlassen wurde, zog er mit ihm ins heimische Rheinland. „Hier habe ich die Unterstützung meiner Familie“, sagt er. „Auch für Saschas Eltern, die im Saarland wohnen, ist es nicht so weit.“

Hüsges baute alles behindertengerecht um, bezahlte vieles selbst, erhielt aber auch finanzielle Unterstützung. Noch wichtiger sei jedoch, dass die notwendige Rundum-Pflege von der Unfallkasse Berlin übernommen werde. Und ihn zwei sehr engagierte Mitarbeiterinnen dort sehr kompetent unterstützten.

"Ich bin schon froh, dass er mich erkennt"

Helfen würden ihm auch die Freunde im Rheinland, die Kameraden im Tennisclub und im Karnevalsverein. Die Traurigkeit kommt dennoch immer wieder – oft, wenn er in der gemeinsamen Wohnung in Berlin ist. „Wir hatten unser Leben ganz anders geplant.“

An den Veranstaltungen zum dritten Jahrestag des Anschlags wird er nicht teilnehmen. „Ich werde zu Hause versuchen, mich irgendwie abzulenken. Ich bin einfach sehr enttäuscht von Ermittlungsbehörden und öffentlichen Stellen, die nach meinem Gefühl nicht besonders motiviert und engagiert an die Aufklärung herangingen und immer noch herangehen.“

Hartmut Hüsges formuliert seine Kritik bedächtig, aber ohne Rücksicht auf sein Amt. „Ich bin zwar Beamter, aber auch Bürger dieses Landes. Und als solcher werde ich mit meiner Meinung, wonach man offenbar immer nur das zugibt, was ohnehin schon durchgesickert ist, nicht hinterm Berg halten.“

Zwar könne er nicht einschätzen, warum die Sicherheitsbehörden trotz aller Warnungen den Attentäter Amri nicht weiter beobachteten, doch es sei klar, dass dies ein grober Fehler war. Tödlich für zwölf Menschen, leidvoll für mehr als hundert physisch und psychisch Verletzte und Tausende Angehörige. „Amri hätte längst dingfest gemacht werden müssen und können“, sagt Hüsges.

An Spekulationen etwa über Einflussnahme ausländischer Geheimdienste würde er sich jedoch nie beteiligen. Auch als ein Nachrichtenmagazin im Sommer dieses Jahres mit angeblich neuen Erkenntnissen aufwartete, schaute er sehr genau hin. „Da war von einem Video die Rede, in dem angeblich zu sehen ist, wie Sascha von einem Mann festgehalten oder geschlagen wurde“, sagt er. „Die Zeitschrift spekulierte, dass dies Amri selbst oder sein möglicher Helfer gewesen sei – aber dafür gibt es keinen Beleg. Ich habe mir das Video angeschaut, nicht mal ein Schlag ist darauf zu sehen.“

Dass Opfer wie Sascha Hüsges in solchen Artikeln ungefragt namentlich genannt werden, hält er für ethisch bedenklich. Schließlich könne sich dieser nicht dagegen wehren. Bislang sei unklar, ob er sich überhaupt jemals erinnert. „Vielleicht erfahre ich das, wenn er es schafft, ein spezielles Kommunikationsgerät, das wir bewilligt bekommen haben, mit den Augen zu steuern.“ Das werde allerdings einige Jahre dauern. Bislang kann Sascha nur den linken Arm und die linke Hand ein wenig bewegen.

„Ich bin ja schon froh, dass er mich und Verwandte und Freunde erkennt“, sagt Hartmut Hüsges. „Wenn ich ihm etwa erzähle, dass seine Mutter, zu der er immer ein besonderes Verhältnis hatte, bald wiederkommt, wird er ganz aufgeregt und fängt an zu weinen. So kann er seine Freude zeigen. Nur so.“

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