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Politik: Ost-Erweiterung: "Zehn Jahre Übergangsfrist, sonst riskieren wir Pleiten"

Eberhard Diepgen (59), seit 15 Jahren Regierender Bürgermeister von Berlin, will die geopolitische Lage der Hauptstadt im Zentrum Europas nutzen. Der Blick soll nicht nur nach Osten und Südosten, sondern auch in den Ostseeraum gehen.

Eberhard Diepgen (59), seit 15 Jahren Regierender Bürgermeister von Berlin, will die geopolitische Lage der Hauptstadt im Zentrum Europas nutzen. Der Blick soll nicht nur nach Osten und Südosten, sondern auch in den Ostseeraum gehen. Mit seinem "Berliner Modell" zur Neuordnung der Kompetenzen beteiligt sich Berlin an der laufenden Diskussion über die Verfassung Europas.

Die Europaminister der Bundesländer treffen sich heute in Berlin. Für die Stadt ist die Frage nach der europäischen Zukunft vor allem eine nach Chancen und Risiken der Ost-Erweiterung. Wer hat Recht: Die Experten, die einen Bedarf für Zuwanderung sehen? Oder jene, die Angst vor Job-Konkurrenz haben?

Wir brauchen Zuwanderung wegen der wirtschaftlichen Interessen Deutschlands und Berlins, aber eine gezielte Zuwanderung. Wir müssen Eliten aus aller Welt nach Berlin holen. Eine andere Sache ist die Freizügigkeit in einer erweiterten EU. Da bin ich für mehrjährige Übergangsfristen, mindestens für die sieben Jahre, die der Bundeskanzler genannt hat. Ich meine, eher länger: zehn Jahre. Die sieben Jahre wie beim Beitritt Spaniens und Portugals sind für Osteuropa zu wenig, weil das ökonomische Gefälle größer ist. Nur bei der Zuwanderung können wir steuern.

Sie misstrauen Prognosen, etwa des DIW, dass bei Freizügigkeit nur 200 000 Menschen pro Jahr aus den neuen EU-Staaten nach Deutschland kommen werden: so viele, wie Deutschland schon allein für die Rentenkassen braucht?

Wir in Berlin haben nach der Einheit bittere Erfahrungen mit der Freizügigkeit zwischen ökonomisch unterschiedlichen Gebieten machen müssen und die Wettbewerbsverzerrung am eigenen Leib erlebt. Mir geht es aber auch um die europäische Idee. Übergangsfristen sind nötig, damit die Bürger die Erweiterung akzeptieren. Die Fristen müssen nicht starr sein, man kann regelmäßig prüfen und sie gegebenenfalls verkürzen. Bei der Freizügigkeit für Arbeitnehmer bin ich für zehn Jahre, bei Dienstleistungen für mindestens sieben Jahre, im Verkehrsbereich kann es kürzer sein. So kann man die Sorgen austarieren.

Die Berliner Hotels lassen doch längst ihre Wäsche in Polen waschen. Wie wollen Sie den Austausch von Dienstleistungen im grenznahen Raum verhindern? Soll man das überhaupt in einer Marktwirtschaft?

Ein Gegenbeispiel: Berlin ist die größte Baustelle Europas - und hat die höchste Arbeitslosigkeit im Bausektor. Die Handwerks- und Baubetriebe haben Sorge, dass die Wettbewerbsverzerrung bei Freizügigkeit für Polen, Balten und Tschechen noch größer wird. Die Übergangsfristen sind nötig, wenn wir nicht Pleiten riskieren wollen. Gleichzeitig müssen die Berliner Unternehmen ihre Konkurrenzfähigkeit steigern.

In welchen Bereichen können Sie den Berlinern Mut machen, dass sie von der Öffnung nach Osten profitieren?

Wir haben besondere Erfahrungen mit der Lage zwischen Ost und West. Die können wir nach der Aufnahme Polens und anderer Staaten in die EU noch besser nutzen. Wir wollen in diese neuen Märkte hochwertige Waren, neue Produkte exportieren. Berliner Qualitätsarbeit, nicht Massenproduktion. Das wird neue Arbeitsplätze in Berlin schaffen und alte sichern. Wenn die Stadt sich auf die neue Lage einstellt, sind auch für kleine und mittlere Unternehmen die Chancen der Ost-Erweiterung größer als die Risiken.

Deutschland hat derzeit den Vorsitz im Ostseerat. In diesen Wochen gibt es in Berlin zahlreiche Konferenzen zur Ostsee-Kooperation. Die Küstenländer Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein kümmern sich seit Jahren aktiv darum. Und was tut Berlin?

Berlin ist eng verbunden mit vielen Städten im Ostseeraum. Ich wünsche mir eine starke Ost-West-Achse in Europa unter Einbeziehung des Ostseeraums. Es gibt ein Dreieck: Kopenhagen / Malmö im Norden, Wien / Budapest / Pressburg im Süden und Petersburg / Helsinki / Tallinn im Nordosten. In diesem mitteleuropäischen Wirtschaftsraum bildet die Region zwischen Elbe und Oder, von Hamburg über Berlin bis Sachsen, ein Schwergewicht.

Sind Städtepartnerschaften nicht eine Nummer zu klein für das Land Berlin mit seinen 3,5 Millionen Bürgern? Ganz Estland hat nicht mal halb so viele Einwohner.

Berlins Größe löst in der regionalen Zusammenarbeit mitunter ängstliche Fragen aus, auch in den angrenzenden polnischen Wojewodschaften. Wir orientieren unsere Zusammenarbeit aber nicht an der Bevölkerungszahl, sondern am Aufbau transeuropäischer Kommunikationsnetze. Helsinki ist keine offizielle Partnerstadt, bietet aber zum Beispiel in der Telekommunikation interessante Partner für Berliner Unternehmen.

Die Europaminister der Länder werden heute auch über die geforderte Kompetenzabgrenzung zwischen der EU, den Nationalstaaten und den Regionen beraten. Bisher war das eine Einbahnstraße: Immer mehr Zuständigkeiten gingen nach Brüssel. Muss Europa zurückgebaut werden?

Europa redet über Erweiterung, Einstimmigkeit, institutionelle Reform, obwohl wir noch gar nicht wissen, wie Zuständigkeiten und Verantwortung in diesem Europa geregelt sein sollen. Das soll bis 2004 geschehen, wurde in Nizza beschlossen. Mit dieser Arbeit muss sofort begonnen werden. Wir haben mit dem "Berliner Modell" ein Konzept vorgelegt, nach dem es eine ausschließliche, eine konkurrierende, eine ergänzende und eine koordinierende Zuständigkeit Europas geben soll. Bei der ergänzenden und koordinierenden Zuständigkeit darf Europa nicht in die Gesetzgebung der Mitgliedstaaten eingreifen. Der Bereich Wettbewerb gehört nach Europa, auch Außen- und Verteidigungspolitik, ebenso Einzelfragen der inneren Sicherheit und Kriminalitätsbekämpfung. Dagegen muss die Daseinsvorsorge primär Angelegenheit der Einzelstaaten und in ihnen der Regionen, Länder und Städte sein. Auf eine ganze Reihe europäischer Richtlinien könnten wir sehr gut verzichten, etwa im Umweltbereich oder im Jagdrecht. Sie sind entstanden aus einer Mischung von zu viel EU-Bürokratie, dem Versuch, nationale Probleme über Europa zu lösen, und dem Wunsch von Experten, ihre national gescheiterten Ideen über die EU doch noch durchzusetzen. Es muss nicht jede lokale Baumaßnahme in Brüssel geprüft und damit entschieden werden.

Hat ein Land wie Berlin die Chance, sein Modell in die EU-Diskussion zu bringen?

Von Europarechtlern wird das "Berliner Modell" als praktikabel angesehen. Bei meinen Reisen spüre ich, dass das Interesse an einer Regelung überall gewachsen ist, nach dem enttäuschenden EU-Gipfel von Nizza fast explosionsartig. Der Druck der Bundesländer auf die Bundesregierung hat dazu beigetragen.

Um seine Zuständigkeiten zu bewahren, muss Berlin einen Doppelsieg erringen: erst durchsetzen, dass die jeweilige Kompetenz nicht bei der EU, sondern beim Nationalstaat liegt und sie dann intern vom Bund zum Land oder der Kommune holen. Und das Druckmittel dafür wäre, dass die Länder Europa-Verträge im Bundesrat ratifizieren müssen?

Die Bundesländer haben deutlich gemacht - und dem stimme ich ausdrücklich zu -, dass die Ratifizierung auch vom Prozess der Kompetenzabgrenzung abhängt. Wie die Zuständigkeiten der Mitgliedsstaaten intern gelöst werden - durch starke Verantwortung der Bundesländer wie in Deutschland oder weniger föderal wie in anderen Staaten - ist jedenfalls nicht Sache einer europäischen Verfassung. Was deren Entwurf angeht, spricht angesichts der schlechten Vorbereitung der Regierungskonferenz von Nizza vieles für die Einberufung eines Konvents, wie bei der EU-Grundrechte-Charta. Von einer verfassungsgebenden Versammlung in Europa halte ich nichts.

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