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Politik: „Praktiker stören meist nur“

Neuköllns Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky über Schulen, Integrationsgipfel – und Sonntagsreden

Herr Buschkowsky, warum ist das Rauchverbot im Foyer des Neuköllner Rathauses in vier Sprachen verfasst?

Weil für 163 Sprachen kein Platz ist.

Wenn aber in Neukölln so viele Sprachen gesprochen werden, warum dann nicht die öffentlichen Hinweise einfach auf Deutsch?

Wir wollen, dass sich die Leute an das Rauchverbot halten. Deswegen müssen sie es auch lesen können. Die Amtssprache ist Deutsch, basta, ist da nicht hilfreich. Deshalb werden solche Hinweise auch auf Türkisch, Arabisch und Serbokroatisch gegeben. Hier leben 100 000 Menschen mit Migrationshintergrund.

Die Bundeskanzlerin lädt zu einem Integrationsgipfel. Was erhoffen Sie sich?

Fragen Sie lieber nach meinen Befürchtungen...

Also: Was befürchten Sie?

Die allseits bekannte Verbandsrhetorik, die üblichen Schuldzuweisungen und Sonntagsreden. Frau Böhmer...

… die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung…

...sieht nach Presseberichten keine Versäumnisse der Integrationspolitik der vergangenen Jahrzehnte. Aber man muss sich die Integrationsgebiete, die Schmelztiegel in den Großstädten, Hamburg, Köln, Berlin oder oder... doch nur ansehen. Dann sieht man die Versäumnisse. Letztlich haben sie nur eine Ursache. Vor Jahrzehnten sind Arbeitskräfte ohne jede Rücksicht auf ihren kulturellen Hintergrund angeworben worden. Wenn ich aber Analphabeten anwerbe und mich nicht darum kümmere, dass sie lesen und schreiben lernen, darf ich mich nicht wundern, wenn sie 20 Jahre später ihren Kindern nicht bei den Hausaufgaben helfen können. Und auch nicht über bildungsferne Elternhäuser klagen oder fehlende beziehungsweise tradierte Erziehung.

Hier leben drei Migranten-Generationen. Seit einigen Jahren scheinen die Gegensätze eine neue Dimension zu haben. Stichwort: Parallelgesellschaften. Warum?

Die höheren Geburtenraten bei den Migranten beschleunigen die Veränderungen. Die Rektorin einer Grundschule sagte mir vor kurzem: Vor 15 Jahren hatte ich einen Ausländeranteil von 23 Prozent. Heute sind es 78 Prozent. Und urplötzlich fällt uns auf, dass wir eine Population haben, bei der wir nicht mehr wissen, wer wen integriert. In Neukölln-Nord sind 81 Prozent der Grundschulkinder nichtdeutscher Herkunft. Mit unserem jetzigen Schulsystem entlassen wir viele junge Leute aus der Schule, die in unserer Gesellschaft fast keine Chance haben. Sie suchen Halt, wo sie ihn finden – auf der Straße, in der Kultur ihrer Herkunftsländer, in der Religion oder der Kriminalität und in der Abgrenzung.

Die Politik hat inzwischen doch diese Einsichten ...

Leider oft nur verbal!

Wie würden Sie die Kluft zwischen den Einsichten und den Sonntagsreden schließen?

Zuerst: die Kindergartenpflicht. In Neukölln haben 45 Prozent der künftigen Schulanfänger aus Migrantenfamilien Sprachprobleme. Von den Kindern, die nicht im Kindergarten waren, sind es aber 80 Prozent. Schulsenator Klaus Böger sagt, in Berlin gehen 90 Prozent aller Kinder in den Kindergarten. Ich bekomme aus unseren Gebieten mit Quartiersmanagement …

… das sind Gebiete mit problematischer Sozialstruktur, mit eigenen Sozialarbeitern...

… Hinweise, dass maximal die Hälfte der Migrantenkinder Kindergärten besuchen. In Neukölln haben wir Kitas wegen mangelnder Nachfrage geschlossen.

Wer Integrationsprobleme lösen will, muss also Geld investieren?

Ja, Integration gibt es nicht zum Nulltarif. Das hat ja schon der bayerische Innenminister Günter Beckstein gesagt: Wer heute nicht in Integration investiert, wird morgen das Doppelte und Dreifache zahlen. Und Beckstein gehört wirklich nicht zur linken pressure group in Deutschland. Recht hat er trotzdem. Dass unsere Entschlossenheit oft nur eine verbale ist, zeigt der Umgang mit zwei sehr vernünftigen Vorschlägen zur Integration. Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen hat eine Kindergartenpflicht vorgeschlagen, beginnend mit einem Pflichtkindergartenjahr vor der Schule. Sie ist platt gemacht worden für diesen Vorschlag. Dann kam Bundesfinanzminister Peer Steinbrück. Er hat überlegt, das Kindergeld um vier bis fünf Euro abzusenken, um damit zu beginnen, das letzte Kindergartenjahr kostenfrei anbieten zu können. Weiter hat er vorgerechnet: Zehn Prozent weniger Kindergeld – und es gibt eine komplette kostenneutrale Vorschulerziehung für alle Drei- bis Sechsjährigen in der Bundesrepublik. Die gleiche Reaktion! Für mich führt der Weg zu mehr Integration über die Kindergartenpflicht und flächendeckende Ganztagsschulen. Und in Berlin muss die Hauptschule weg.

Warum?

Neben Gymnasium, Realschule und Gesamtschule hat sich die Hauptschule in Berlin überlebt. In diesem Jahr haben 35 Prozent des Berliner Schülerjahrgangs das Abitur gemacht. Mir sagte vor kurzem der Inhaber einer Neuköllner Gebäudereinigungsfirma, er habe Bewerber mit Abitur für den Beruf als Gebäudereiniger. Ein Extrembeispiel, aber es zeigt den Verdrängungsprozess zu Lasten der Hauptschüler.

Alles in allem: Es fehlt nicht an der Erkenntnis, sondern an der Umsetzung?

Das große Defizit liegt in unserer Haltung: Wir müssen Integration wirklich wollen! Je nach Zählweise sind wir das zweit- oder drittgrößte Integrationsland der Erde. Wir beklagen Fehlentwicklungen in den Städten, sind aber unschlüssig und auch orientierungslos über den Weg ihrer Beseitigung. In allen Parteien und auch in den Migrantenorganisationen.

Sie haben über die gesprochen, die sich nicht integrieren können. Was ist mit denen, die sich überhaupt nicht integrieren wollen?

Das ist die Gruppe, die das öffentliche Bewusstsein bestimmt. Vermummte Frauen oder ein paar an der Ecke herumlungernde Jugendliche, die jeden, auch andere Migranten, anpöbeln, prägen die Meinung mehr als die Jugendlichen nichtdeutscher Herkunft, die zur Musikschule gehen. Allerdings berichten mir die Sozialarbeiter aus dem Neuköllner Norden, dass die Zahl der so genannten Problemfamilien größer wird. Die Zahl der Familien wächst, in denen den Kindern zu Hause verboten wird, deutsch zu sprechen. Da sind Familienbefindlichkeiten wichtiger als der Schulbesuch. Genauso wie wir überwunden glaubten, dass Mädchen nicht am Biologieunterricht, am Sport und an der Klassenfahrt teilnehmen dürfen.

Ist die Schulpflicht in Gefahr?

Nein. Aber es gibt ernst zu nehmende Tendenzen, sie beliebig zu interpretieren statt sie als unabdingbare Voraussetzung für die Zukunft der Kinder zu begreifen.

Ihr Bezirk ist doch bekannt dafür, mit Verstößen gegen die Schulpflicht hart umzugehen – mit Bußgeldern, sogar mit der polizeilichen Vorführung von Schulschwänzern.

Stimmt – wenn wir davon erfahren. Es gibt auch Schüler, da macht jeder Lehrer drei Kreuze, wenn sie morgens nicht kommen. Die Schulversäumnisanzeige wird auch mal vergessen. Das Problem ist vielschichtig. Die polizeiliche Zuführung soll dem Nachahmereffekt vorbeugen: Center-Kids dürfen nicht cool sein. Es muss Reaktionen darauf geben. Auch zu Hause. Ich finde, wenn Eltern nicht dafür sorgen, dass ihre Kinder in die Schule gehen: Weg mit dem Kindergeld!

Es gibt die Klage über die Zuwanderung in die Sozialsysteme. Geht es manchen Migranten zu gut?

Da geht es – wie eben beim Kindergeld – nicht nur um Migranten. Es geht um alle, die die Sozialleistungen als Lebensgrundlage adaptiert haben. Kürzlich habe ich auf einer internationalen Tagung das deutsche Transferleistungssystem beschrieben. Eine sechsköpfige Familie kommt bei uns mit der Miete auf 2000 bis 2500 Euro. Eine Akkordarbeiterin in der Wäscherei verdient 800 bis 850 Euro, ein Facharbeiter 1600 Euro. Die Kollegen aus dem Ausland nannten das gesellschaftlichen Selbstmord. Natürlich ist es genauso Realität, dass gerade die niedrig bezahlten Jobs von Migranten gemacht werden. Die und diejenigen, die gerne arbeiten würden, sind auch die Mehrheit. Dass es in vielen Ländern, wie auch in der Türkei, keine hinreichenden Sozialsysteme gibt, ist für viele Menschen natürlich ein Grund, in ein anderes Land zu gehen. Wir erleben das gerade in Spanien.

Kindergartenpflicht und Ganztagsschule – was gehört noch in Ihren politischen Maßnahmenplan?

Wir brauchen so etwas wie eine wiedererweckte Zonenrandförderung.

Das müssen Sie erläutern.

Wir brauchen, wie früher für die Zonenrandgebiete, eine gezielte Wirtschaftsförderung für Gebiete mit schwacher Sozialstruktur. Die Niederlande machen es uns vor, etwa in Rotterdam. Denn die wirtschaftliche Entwicklung hat eine große Bedeutung. In Neukölln sind 50 Prozent der Migranten arbeitslos, mindestens. Die Leiterin eines Kindergartens erzählt mir: 70 Prozent der Eltern ohne Arbeit. Eine Grundschullehrerin: von 23 Kindern haben drei Eltern einen Job. Das macht diesen Bezirk doch fertig. Die sozial Starken ziehen weg. Damit geht auch jeder Ansporn verloren. Die soziale Entmischung ist unser eigentlicher Feind. Aus ihr erwachsen viele negative Folgen. Der Bevölkerungsanteil der Migranten in Neukölln-Nord beträgt heute 50 Prozent, in den Schulen sind 80 bis 100 Prozent Kinder nichtdeutscher Herkunft. In zehn bis 15 Jahren werden die Menschen mit Migrationshintergrund hier drei Viertel der Bevölkerung ausmachen. Wir müssen mit einer engagierten Integrationspolitik diese Menschen erreichen! Nur das sichert den sozialen Frieden und verhindert die Austragung von historischen Uraltkonflikten zwischen den Ethnien.

Hat der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit mit Ihnen schon einmal über die Integration und die Neuköllner Probleme gesprochen?

Lassen Sie mich nachdenken...

Und Frau Böhmer?

Wir sind uns einmal begegnet, als sie mit dem französischen Minister Azouz Begag in Neukölln war. Da bin ich des Lobes teilhaftig geworden: „Sie sind ein interessanter Mann.“

Haben Sie eigentlich eine Einladung zum Integrationsgipfel?

Nein, Praktiker stören meist nur.

Das Gespräch führten Tissy Bruns und Werner van Bebber.

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