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Massendemonstrationen gab es in Algerien auch von Medizinern.

© Farouk Batiche/dpa

Protestkultur im Wandel: Der „Druck der Straße“ wirkt weiter am stärksten

Online-Bewegungen sind ein wachsender Trend. Doch wirklichen Erfolg verspricht nur der analoge, physisch präsente Protest der breiten Masse. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Caroline Fetscher

Algeriens greiser Präsident Bouteflika hat dem nachgegeben, was gern „der Druck der Straße“ genannt wird. Nach zwei Jahrzehnten an der Macht hat der 1937 geborene Abd al-Aziz Bouteflika am 1. April sein Amt aufgegeben, nachdem er über Wochen die Züge von Millionen Protestierenden sehen musste, die seinen Rücktritt forderten.

Zweifellos haben sich die Zornigen und Ungeduldigen digital verständigt und organisiert. Doch das allein hat den kleinen algerischen Frühling nicht sprießen lassen, sondern die physisch präsente, die analoge Menge. Leute, die ihre Küchen, Wohnzimmer und Arbeitsplätze verlassen, um draußen, laut und sichtbar, Unmut zu bekunden.

Wer und was auf Bouteflika folgt, das wird sich zeigen. Gezeigt hat sich jedoch bereits, was in der Ära der MeToo-Hashtags und Online-Petitionen fast zweitrangig wirkte: Der analoge Aufstand wirkt weiterhin am stärksten. Vom physischen Einsatz der eigenen Körpers, vom Hier-bin-ich und Hier-sind-wir hat sich politischer Protest nicht gelöst – und wird es auf absehbare Zeit wohl nicht tun. Hunderttausende marschieren in Großbritannien gegen den Brexit, in Venezuela gegen die korrupte Regierung, in Neuseeland gegen rechten Terror.

Prominenteste Protestler sind aktuell die Klimaaktivisten um Greta Thunberg mit den Millionen Schulstreikenden. Weltweit fordern sie das Eindämmen der Erderwärmung, den Schutz für ihre Recht auf die Zukunft von den Eliten. Und zwar heute. Jetzt setzen sie ihre Körper ein, als mahnend Abwesende auf der Schulbank, als auffallend Anwesende im öffentlichen Raum, so wie die Schülerin Greta anfangs über Wochen auf der Treppe vor Schwedens Parlament.

Oft markieren einzelne Akte von Individuen oder kleinen Gruppen den Auftakt zu größeren Aufständen und Kampagnen. Die ersten Greenpeace-Aktivisten waren amerikanische Kriegsdienstverweigerer, die 1971 in Kanada einen Kutter charterten und gegen Atomtests auf den Aleuten in See stachen, langhaarige Hippies. Hunderttausende Unterstützer schlossen sich ihnen an.

Vor 40 Jahren erlebte die Bundesrepublik ihre bis dahin größte Kundgebung gegen Atomkraft, als am 31. März 1979 in Hannover mehr als 40.000 Demonstranten gegen das „nukleare Entsorgungszentrum“  Gorleben protestierten. Die euphemistische Vokabel „Entsorgung“ erregte Sorge, die Sorge wuchs.

32 Jahre und zahlreiche Atomkraftunfälle später beschloss das Kabinett in Berlin den Ausstieg aus der Atomenergie. Nicht nur die strahlenden Trümmer von Tschernobyl und Fukushima, auch das beharrliche Alarmieren von Demonstranten trug zur Einsicht bei. Der lange Marsch war einer von realen Leuten auf realen Straßen, nicht auf virtuellen Glasfaserbahnen.

Vor allem wütende und junge Menschen protestieren 

Dass es fast immer die Jüngeren sind, die Kinder, Jugendlichen, Studenten, die Umwälzungen in Gang setzen, hat mit ihrer Offenheit zu tun: Sie sind in der intensivsten Phase des Lernens. Und: Sie können sich bewegen. Noch nicht gefesselt an Arbeitsverträge und Haushalte, noch wenig getrieben von Karrierekalkül und sogenannten Sachzwängen können sie rausgehen, hingehen, sich versammeln, laufen, rufen und bessere Verhältnisse fordern, von denen, die zu tief in der Spur versackt sind, um das Land zu sehen, schon gar nicht das von morgen.

Auch dubiose Protestler treibt es auf die Straßen, ohne Frage. Leute, die vom Abendland raunen, ihren Nationalwahn gegen Ausländer ins Feld führen. Unter den „gilets jaunes“, den französischen Gelbwesten, die in Paris ihre Wut ausdrücken, sind viele Fans von Marine Le Pen. Viele kommen vom Land oder aus den Vorstädten, sind nicht gut ausgebildet und anfällig für Verschwörungstheorien.

Doch wo explosiver Groll sich artikuliert, da liegt etwas im Argen. Marschierende, die Sündenböcke suchen, sind gefährlich. Fast immer sind sie auch gefährdet. Gut, dass man sie sieht, denn nur so lässt sich ihnen begegnen. Nur deshalb konnte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, der hochbegabte Überflieger, seine Dialogtournee ins Leben rufen, um die wahren Anliegen der Abgehängten zu erkunden, ebenfalls physisch präsent, nicht per Whatsapp, Chatroom oder Videobotschaft.

Ohne gelbe Westen wollen an diesem Samstag, dem 6. April, Tausende durch Leipzig ziehen, um ihren Zorn zu zeigen über steigende Mieten und Immobilienspekulanten. Dieser analoge Aufstand hat eben erst begonnen. Da geht es nicht ums Abendland, sondern ums Wohnen, also um notwendige Orte realer, physischer Präsenz.  Auch Wohnen geht nicht online.

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