zum Hauptinhalt
Vor Schülern und Diplomaten. Bundespräsident Joachim Gauck hält im Schloss Bellevue seine erste große Grundsatzrede.

© dpa

Rede des Bundespräsidenten zu Europa: Krisenbewältigung nur am Rande

Der Bundespräsident skizziert in seiner Rede eine hoffnungsvolle Vision von Europa. Doch seine Rede zeigt auch, wie schwer er sich mit genau diesem Europa tut. Und auf drängende Fragen gelingen ihm keine Antworten.

Von Antje Sirleschtov

Präsidenten haben es nicht leicht. Halten sie zu allem und überall Reden, heißt es sehr schnell, sie seien geschwätzig. Sparen sie mit großen Worten, fragt sich jeder, wofür sie das höchste Amt, das Deutschland zu vergeben hat, eigentlich nutzen wollen.

Joachim Gauck ist jetzt beinahe ein Jahr Bundespräsident, und man kann sagen: Er sucht noch nach einem Mittelweg. Zum Thema Europa zum Beispiel wusste man von ihm bisher lediglich, dass er findet, die Bundeskanzlerin sollte den Menschen das Zusammenwachsen des Kontinents und die aktuellen Krisen besser erklären.

Nun, nach fast einem Jahr im Amt, hat der Präsident selbst eine europäische Erklärung abgegeben. Seine erste große Rede und dann noch zu einem Thema, bei dem man das Gefühl nicht los wird, fast alle hätten dazu schon alles gesagt? Die Erwartungen der Öffentlichkeit jedenfalls waren hoch. Und Gauck wohl auch ziemlich nervös. Lange und intensiv haben seine Mitarbeiter und auch er selbst an der Rede gearbeitet. Bis kurz vor diesem Freitag, an dem er sich 200 Gäste ins Schloss Bellevue eingeladen hat.

Botschafter, Religionsvertreter, einen Gewerkschafts-, einen Arbeitgeberchef, ein paar Politiker des Bundestages und zwei Handvoll Schüler, auch welche mit roten Punkerhaaren und Piercings in den Lippen. Die Diplomaten, nur um das offizielle Resümee gleich vorweg zu nehmen, haben Gaucks Europarede hinterher mit freundlichen Worten als „ausgewogen“ und „vollständig“ gelobt. Die Politiker meinten, es sei viel Wahres darin gewesen, und den Schülern hat Gaucks Idee mit einem europäischen Fernsehsender am besten gefallen. Einem, der nicht nur bei den Eliten verstanden wird, mit weniger kulturellem Anspruch, ein Art „Arte für Normalos“ sozusagen.

Gleich zu Beginn seiner Rede, sie wird etwa eine Stunde dauern, lässt der Bundespräsident, der sich gern „Bürger Gauck“ nennt, einen eigenen Irrtum im Umgang mit Europa erkennen. Mag es daran liegen, dass er, ein 73 Jahre alter Mann, der die meiste Zeit seines Lebens in der DDR verbracht hat, mit dem Fall der Mauer 1989 unvorbereitet in dieses westeuropäische Europa hineingestoßen wurde und sich seither wie die meisten Ostdeutschen schwer mit europäischen Gefühlen tut. Oder vielleicht war er auch überwältigt von seiner Wahl zum Bundespräsidenten. Jedenfalls hatte Gauck beim Amtsantritt 2012 laut ausgerufen: „Wir wollen mehr Europa wagen.“

Nun, ein knappes Jahr später, nimmt Joachim Gauck den Satz zurück. „So schnell und gewiss wie damals würde ich es heute nicht mehr formulieren“, sagt er. Als erster Mann im Staat hat Gauck inzwischen Polen, Frankreich, Italien sowie die Queen in London und die Vertreter der EU-Institutionen in Brüssel besucht. Haben ihn vor allem diese Erfahrungen ernüchtert oder waren es die vielen Gespräche in Deutschland über die Zukunft Europas?

„Mehr Deutung, mehr Differenzierung“ fordert er nun von jenen, die mehr Europa fordern. Und fügt selbst drei Fragen an, freilich ohne später darauf konkrete Antworten zu haben. Auch der Bundespräsident ist offenbar ratlos, erkennt: „In Europa fehlt eine große identitätsstiftende Erzählung.“ Oder einfacher: Auch er kann nur das Friedens- und Freiheitsprojekt sowie die unabänderlichen Anforderungen der modernen globalisierten Ökonomie als das benennen, was Europa und seine Fortentwicklung notwendig macht.

Gemeinsame Werte, sagt Gauck, seien die „identitätsstiftende Quelle“, Frieden und Freiheit, „Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Gleichheit, Menschenrechte und Solidarität“. Über nationale Grenzen, aber auch Religionen hinweg. So viel wusste man.

Was man indes jenen Kritikern sagen soll, die sich hierzulande als „Zahlmeister der Union“ wähnen und sich dabei immer unwohler fühlen? Oder jenen in Europa, die um ihre nationalen Identitäten fürchten und die Fortentwicklung der Gemeinschaft daher ablehnen? Gauck ringt, rhetorisch, die Hände, sucht Begründungen in der Geschichte europäischer Kriege, wirbt mit Reisefreiheit und Wohlstand, mahnt eine Kultur des Gebens und Nehmens an. Schließlich fordert er „mehr Mut bei allen!“ Europa brauche „nicht Bedenkenträger, sondern Bannerträger, nicht Zauderer, sondern Zupacker“.

Gauck war in der ersten Hälfte seines Lebens Pfarrer, er kennt sich aus mit der Demut des Einzelnen, die benötigt wird, wenn große Ziele mehr mit dem festen Glauben als mit rationalen und nachvollziehbaren Erklärungen erreicht werden sollen. „Heute bekräftigen wir dieses Versprechen“, sagt der Kirchenmann an der Spitze des Staates, man werde „innehalten vor einer neuen Schwelle“ und dann mit „guten Ideen Vertrauen erneuern und bauen, was wir gebaut haben – Europa“.

Und wer soll das bezahlen, wer soll nationale Identitäten aufgeben? Der Bundespräsident widmet sich in seiner Europarede solchen alltäglichen Fragen der Krisenbewältigung nur ganz am Rande. „Geduldig und umsichtig“, sollen Politiker das „Projekt Europa“ vorantreiben, sagt er, niemanden demütigen.

Eine europäische „Agora“ erträumt Gauck zur Diskussion der Menschen über die Zukunft des Kontinents. Einen zentralen Platz also, wie ihn einst die Griechen erschufen, um Feste zu feiern, die Regeln ihres Zusammenlebens festzulegen und auch, um Diebe und Mörder zu richten. Gauck will über die Zukunft Europas reden. Mit allen.

Am Schluss tritt der „Bürger Gauck“ unter dem Applaus von der Bühne herab und setzt sich in die zweite Reihe. Für einen Augenblick klatschen 200 Menschen eine Wand an. Dann steht der Bundespräsident auf, verbeugt sich und geht.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false