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Wo kommt es her, wem gehört es und wie kam es hierhin? Kurator Jonathan Fine von der Provenienzforschung des Humboldt-Forums mit einem Fächer aus Benin.

© Thilo Rückeis

Restitution und Erinnerung: Deutschland braucht eine Entkolonialisierung

Die Verbrechen des deutschen Kolonialismus gehören zu den am meisten verdrängten Etappen der deutschen Geschichte. Jetzt ist die Gelegenheit, das zu ändern. Ein Gastkommentar.

Die Auseinandersetzung mit der deutschen und europäischen Kolonialgeschichte führt bis heute ein Schattendasein. Jetzt entwickelt sie sich zum wichtigsten kultur- und gesellschaftspolitischen Anliegen der kommenden Jahre - endlich. Spätestens mit der Rede Emmanuel Macrons in Burkina Faso und seiner Ankündigung, „innerhalb der nächsten fünf Jahre die Voraussetzungen für zeitweilige oder endgültige Restitutionen des „afrikanisches Erbes an Afrika“ zu schaffen, ist die Frage der Aufarbeitung des Kolonialismus und seiner Folgen auch hierzulande in Kerninstitutionen wie dem Bundestag, dem Auswärtigen Amt und der Beauftragen der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) - und damit im Kanzleramt angekommen. Im Koalitionsvertrag der alten neuen Koalition wird die Aufarbeitung des Kolonialismus angekündigt. Die Debatte gehört in der Tat überall hin, in die Zivilgesellschaft, in die Künste, in die Museen und eben auch ins Zentrum der Republik, ins Zentrum der deutschen Erinnerungs- und Gedenkpolitik.

Denn bis heute gibt es keine offizielle Bitte um Entschuldigung und Entschädigung der Bundesrepublik für den ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts, der Ermordung zehntausender Herero und Nama 1904-1908 durch deutsche Kolonialtruppen in der Kolonie Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia. Das aber wäre ein überfälliger Schritt, ein wichtiges Zeichen und eine angemessene Antwort auf die Initiative von Macron.

Deutschland galt lange Zeit als die kleine und „harmlose“ Kolonialmacht. Dieses Bild beginnt sich langsam zu verändern. Hieran haben besonders die zahlreichen lokalen, zivilgesellschaftlichen Initiativen wie zum Beispiel in Bremen, Hamburg, Berlin und vielen anderen Städten einen wichtigen Anteil, die koloniale Kontinuitäten adressieren. Maßgeblich treiben sie die Debatte um Raubgüter, Erinnerungsorte und die Diskussion über Umbenennung von Straßennamen mit kolonialem Hintergrund voran.

Auskunft über den Status quo der Gesellschaft

Nach wie vor prägen kolonialistische Bilder unser Denken: das Bild von Afrika, exotistische Vorstellungen des „Fremden“ und tradierte Vorstellungen von behaupteter Ungleichwertigkeit zementieren fortbestehende Machtverhältnisse. Die Aufarbeitung des kolonialen Erbes und die proaktive Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialgeschichte können Auskunft geben über den Status quo der deutschen Gesellschaft, über gegenwärtigen Rassismus und Langzeitwirkungen des Kolonialismus, wie sie in der postkolonialen Theorie untersucht werden.

Die Folgen kolonialistischer Politik wirken bis heute fort und es gehört eine konsequente „Entkolonialisierung“ Deutschlands auf die Agenda. Gerade angesichts der aktuellen Flüchtlingsbewegungen ist eine Neukonzeptionierung der deutschen Erinnerungskultur hin zu dezentralen, multiperspektivischen Lernorten, die diese Leerstelle systematisch aufarbeiten, dringend geboten.

Ein Zeitfenster aufgestoßen

Viele Menschen aus ehemaligen Kolonien sind bereits nach Deutschland eingewandert und viele werden weiterhin kommen. Sie bringen die ins kollektive Gedächtnis ihrer Heimatländer eingebrannten Kolonialerfahrungen mit.

In Deutschland wird dagegen vor allem über das Humboldt Forum gestritten. Ob das bürgerliche Milieu, das sich hinter der Initiative des Fördervereins Berliner Schloss e.V. versammelt, auch nur geahnt hat, was an postkolonialen Debatten mit dem Wiederaufbau des preußischen Prachtbaus ins Haus steht, bleibt ungewiss. Intendiert war diese Entwicklung ganz sicher nicht. Darin liegt aber auch eine Chance: Neben dem unabschließbaren Gedenken an den Holocaust und den weiteren NS-Verbrechen ist jetzt ein Zeitfenster aufgestoßen worden, die Voraussetzungen für die Aufarbeitung des Kolonialismus und seiner Folgen systematisch anzugehen.

Eine Dokumentationsstätte zur deutschen Kolonialgeschichte

Die Ankündigung von Monika Grütters, Staatsministerin für Kultur und Medien, „die Aufarbeitung der Provenienzen von Kulturgut aus kolonialem Erbe in Museen und Sammlungen (…) mit einem Schwerpunkt“ zu fördern geht in die richtige Richtung (DIE ZEIT Nr. 18/18). Die Stärkung der Provenienzforschung für außereuropäische Sammlungen, wie sie auch im neuen Leitfaden des Deutschen Museumsbundes anvisiert wird, reicht aber nicht aus. Denn die Verbrechen des deutschen Kolonialismus insgesamt gehören zu den am meisten verdrängten Etappen der deutschen Geschichte und spielen zum Beispiel in Lehrplänen kaum eine Rolle. Stattdessen liefern sich Auswärtiges Amt und BKM ein Kompetenzgerangel um das Thema Rückgabe von Objekten aus kolonialen Kontexten, das sicher nicht hilfreich ist (vgl. „Neue Kultur des Teilens“ in: SZ, 22.05.2018).

Was wir brauchen ist ein breiter gesellschaftlicher Diskurs auf Augenhöhe mit den Nachfahren der Kolonialisierten über angemessene öffentliche Formen der Erinnerung und der Anerkennung von Deutschlands Verantwortung als ehemaliger Kolonialmacht. Was wir brauchen ist die Erforschung dessen was war, um die Zukunft gestalten zu können. Wer seine eigene Geschichte verdrängt, trifft falsche Entscheidungen und Gegenwart und in der Zukunft. Dabei sind Demut und Zuhören entscheidende Werkzeuge.

Koloniales Erbe laufend erfahren

Ebenso brauchen wir aber auch neue, dezentrale Formen der Institutionalisierung im Bereich der Forschung, Lehreramtsausbildung und politischen Bildung. Eine Dokumentationsstätte zur deutschen Kolonialgeschichte könnte das Thema „Kolonialismus“ in seinen unterschiedlichen Facetten angemessen aufarbeiten und die koloniale Vergangenheit Deutschlands multiperspektivisch betrachten. Da dies an keiner der bestehenden Einrichtungen systematisch vorangetrieben wird und auch das Humboldt Forum angesichts kontroverser Debatten und seiner Geschichte sich hierfür nicht eignet, müsste ein neuer Ort gefunden werden. Noch besser: neue Orte. In Hamburg und Bremen, und sicherlich in vielen anderen deutschen Städten, könnten (Be-)Sucher*innen im Rahmen von Spaziergängen koloniales Erbe mit Leib und Seele erfahren und in Besucherzentren zusätzliche Informationen finden. Es muss Lernorte gehen, die es Besucher*innen ermöglichen die Geschichte mit der Gegenwart und ihren eigenen Zukunftsentscheidungen zu verknüpfen. Die Beschäftigung mit unserem (post-) kolonialen Erbe stellt die Frage nach Fortbestehend wirksamen Machtverhältnissen und aus ihr ließen sich Veränderungsimpulse gewinnen.

Zusammengenommen bedeutet das eine grundlegende neue Herausforderung für die deutsche Erinnerungskultur und ihre bisherigen Narrative.

Kirsten Kappert-Gonther ist Mitglied des Deutschen Bundestags und gehört der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen an.

Kirsten Kappert-Gonther

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