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Politik: Ruhe ist jetzt erste Pflicht

Von Christoph von Marschall

Berlin sei „dazu verdammt, immerfort zu werden und niemals zu sein“. Karl Schefflers Satz aus dem Jahr 1910 ist zum geflügelten Wort geworden – für die Dynamik auf dem Weg zur Weltstadt. Der Publizist hatte es freilich anders gemeint. Er traute Berlin die Kraft damals nicht zu. Er fürchtete, dass die Stadt sich an ihrem Ehrgeiz überhebt.

Immerfort werden und niemals sein: Das ist auch das Selbstverständnis der meisten EuropaEnthusiasten, der Berufseuropäer sowieso. Sie können sich die EU nur ständig unter Dampf vorstellen, vorwärts stürmend zur nächsten Erweiterung, zur nächsten Vertiefung. Nicht aber als Organismus, der mal innehält, wenn er ein neues Stadium erreicht, wenigstens so lange, bis sich die Verhältnisse gefestigt haben, bis Europa wieder in sich ruht.

Schefflers Zweifel an Berlins Selbstverständnis 1910 sollten Europa eine Warnung sein. Dafür muss man nicht gleich die folgenden Katastrophen bemühen – die beiden Weltkriege, die Teilung des Kontinents und den Verlust seiner Führungsrolle in der Welt –, die ja auch Folge einer dramatisch falschen Selbsteinschätzung Deutschlands und seiner Hauptstadt waren. Es genügt, den jüngsten EU-Gipfel zu betrachten.

Europa hat endlich eine Verfassung: Diese Schlagzeile wird vorerst die Gipfelbilanz bestimmen und den Ärger um die Kür eines Kommissionspräsidenten überstrahlen. Und da Erfolg nun mal anziehend wirkt, wird sie vielleicht viele Bürger für Europa interessieren und das Wahldebakel vergessen machen. Nur ist diese Schlagzeile nicht ganz wahr, und der Erfolg wurde zudem mit Kompromissen erkauft, die viele Fortschritte, die diese Verfassung bringen sollte, wieder entwerten.

Europa hat noch lange keine Verfassung. Die Staats- und Regierungschefs haben den Entwurf des Konvents nach manchen Änderungen gebilligt; im Dezember hatten sie ihn noch abgelehnt. Wird er die Volksabstimmungen in skeptisch gestimmten Ländern wie Großbritannien oder Polen sowie die Ratifizierung in allen 25 EU-Staaten überstehen? Und selbst wenn diese Verfassung wider Erwarten so um 2009 in Kraft tritt: Was ist sie wert, nachdem der Gipfel sie nochmals kräftig gerupft hat, um die Einigung zu ermöglichen? Ja, sie ist ein Fortschritt, aber sie macht die EU nicht viel entscheidungsfähiger und auch nicht viel demokratischer. In Brüssel wurden jetzt einige Klauseln eingefügt, die gemeinsame Entscheidungen nicht erleichtern, sondern erschweren. Im Parlament muss Deutschland, das schon heute weniger Sitze hat, als ihm nach der Bevölkerungszahl zustehen, drei Sitze abgeben – zu Gunsten kleinerer Staaten, die bereits überrepräsentiert waren.

Im Stolz auf den gemeinsamen Außenminister zeigt sich der gravierendste Irrglauben: dass die EU substanzielle Meinungsverschiedenheiten überwinden könne, wenn sie eine neue Institution einführt. Die 25 EU-Staaten und insbesondere die großen sechs (Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Spanien und Polen) haben aus guten Gründen je eigene außenpolitische Interessen. Die Gegensätze kann auch ein EU-Außenminister nicht aufheben. Und an eine gemeinsame Steuerpolitik ist schon gar nicht zu denken angesichts der so gegensätzlichen Traditionen.

Die Verfassung illustriert das grundsätzliche Problem: Europa kann sich nicht selbst überholen. Um eine Macht in der Welt zu werden, müsste es schneller vorangehen, geeint auftreten. Das geht aber nicht, weil schon der jetzige Stand der Integration den Willen der Bürger, der Nationalstaaten und ihrer Regierungen überfordert. Gar nicht zu reden von der Erweiterung um zehn Staaten, die zwar vollzogen, aber noch lange nicht bewältigt ist. Wer da immer neue Projekte ausruft – die Türkei und jetzt Kroatien –, läuft vor dem Heute davon und riskiert, dass die EU irgendwann an den vielen ungelösten Problemen zerbricht. Ruhe ist jetzt Europas erste Pflicht: Ruhe, um das viele Gute, was erreicht ist, zu konsolidieren. Die EU muss auch mal sein dürfen, und nicht immerfort nur werden.

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