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Politik: Russische Parlamentswahlen verlaufen überraschend ruhig - 100 000 Milizionäre im Einsatz

Punkt sieben war die Nacht im Moskauer Nordwesten zu Ende: Lautsprecherwagen kurvten durch die noch dunklen Straßen und erinnerten die Bewohner mit Getöse und Marschmusik daran, dass in einer Stunde die Wahllokale öffnen. Vergeblich: Die meisten Hauptstädter fluchten nur und drehten sich, als die Heimsuchung vorbei war, seelenruhig noch mal auf die andere Seite.

Punkt sieben war die Nacht im Moskauer Nordwesten zu Ende: Lautsprecherwagen kurvten durch die noch dunklen Straßen und erinnerten die Bewohner mit Getöse und Marschmusik daran, dass in einer Stunde die Wahllokale öffnen. Vergeblich: Die meisten Hauptstädter fluchten nur und drehten sich, als die Heimsuchung vorbei war, seelenruhig noch mal auf die andere Seite. Der Sonntag ist den auf dem flachen Lande ohnehin als Langschläfer verschrienen Moskowitern heilig. Gegen Mittag hatten daher erst knapp zwei Prozent gewählt. Sogar die sonst disziplinierten Rentner, die, kommunistischer Erziehung eingedenk, Wahlen weniger als Recht, denn als Pflicht begreifen, schreckte zunächst ein leichter Schneesturm ab. Alles halb so schlimm, beruhigte Alexander Weschnjakow, der Präsident der Wahlkommission, sich selbst und die verunsicherte Reporterin des Staatsfernsehens: "Bis der Hammer fällt, sind ja noch acht Stunden Zeit."

Etwa 107 Millionen Russen hatten gestern die Qual der Wahl zwischen 26 Parteien und über 3000 unabhängigen Kandidaten, die sich um die insgesamt 450 Sitze in der Staatsduma - dem russischen Unterhaus - bewarben. In acht der 89 Regionen wurden gleichzeitig die Gouverneure neu gewählt und in Moskau der Oberbürgermeister. Außerdem fanden in mehreren Republiken Wahlen zu den Regionalparlamenten statt. In Inguschetien konnten sogar die in den Flüchtlingslagern untergebrachten Tschetschenen und die Soldaten wählen.

500 000 einheimische Beobachter und über 1000 aus dem Ausland verfolgten das Geschehen. Allein die OSZE schickte rund 400. Die insgesamt über 93 000 Wahllokale im größten Flächenstaat der Erde, der immerhin elf Zeitzonen hat, waren von acht bis 20 Uhr geöffnet. Als in der Ostsee-Enklave Kaliningrad, früher Königsberg, die Leiter der Wahlsprengel-Kommissionen der Öffentlichkeit die leeren Urnen präsentierten und die Türen der Wahllokale aufschlossen, registrierten die Computer im Informationszentrum der Zentralen Wahlkommission in Moskau bereits die ersten Ergebnisse aus Fernost: Auf der Tschuktschen-Halbinsel, die nur durch einen 200 Kilometer breiten Sund von Alaska entfernt ist, war vor knapp einer Stunde der Hammer gefallen und die Urnen versiegelt worden.

Bekannt gegeben wurde zunächst jedoch nur die Wahlbeteiligung - knapp 60 Prozent. Ein Trend, der sich bestätigte, als allmählich die Ergebnisse aus Sibirien und dem Ural einliefen. Mit mehr hatten Experten ohnehin nicht gerechnet. Medien hatten wegen des Tschetschenienkrieges noch am Vortag düster Terroranschläge prophezeit. Wegen möglicher Bombendrohungen waren sogar Ersatzwahllokale eingerichtet worden. Solche Befürchtungen bewahrheiteten sich jedoch nur in Dagestan. In der Nacht zum Sonntag war in einem Bergdorf die zum Wahllokal umfunktionierte Schule in Flammen aufgegangen.

Dennoch wurden für die Sicherheit der Wahllokale insgesamt 100 000 Milizionäre aufgeboten, die zur Feier des Tages ihre Paradeuniform aus dem Schrank holen mussten. Fast ebenso viele schwer bewaffnete Ordnungshüter hatten tags zuvor den Transport der Stimmzettel überwacht. Gepanzerte Fahrzeuge mit Blaulicht und Sirene waren bis weit nach Mitternacht unterwegs. Besonders groß war der Sicherheitsaufwand vor der Schule Nr. 1130 in Krylatskoje im Moskauer Westen, wo Boris Jelzin offiziell gemeldet ist. Dort hatten sich schon kurz nach acht mehrere hundert in- und ausländische Journalisten eingefunden, um ein Statement des Kremlherrschers zu erhaschen. Viel Staat war damit jedoch nicht zu machen: Seit Samstag früh ist jede Agitation verboten. Er hoffe, "die neue Duma wird besser als die alte", sagte Jelzin daher nur, als er Punkt zehn mit Ehefrau Naina vorfuhr. Er, so Jelzin weiter, wünsche sich, dass die neue Duma das Politisieren lässt und sich ihrer eigentlichen Aufgabe zuwendet - Gesetze zu verabschieden. Einschlägiger Bedarf besteht in der Tat: Die jetzige Duma überließ ihren Nachfolgern immerhin 40 unerledigte Entwürfe.

Meinungen oder gar Prognosen konnte die Presse auch aus anderen Politpromis nicht herauskitzeln. "Danke für das Interesse, fassen Sie sich in Geduld, ich tue es auch", beschied Regierungschef Wladimir Putin all zu aufdringlichen Seelenforschern. Ex-Premier Jewgenij Primakow und KP-Chef Gennadij Sjuganow - die Spitzenkandidaten der beiden chancenreichsten Wahlblöcke der Kreml-Opposition - gaben sich ähnlich zugeknöpft. Sogar bei der Wahlparty am Abend. In der Wolfsschanze der Kommunisten in der Nähe des Moskauer Gartenrings, wo es statt Schampus Wein - natürlich roten und natürlich russischen - gab, waren die KP-Führer nicht bereit, aus der Deckung zu gehen. Aus gutem Grunde: Die Dumawahlen gelten bei Wählern wie Aktiven als Generalprobe für das Rennen auf den Kreml im nächsten Sommer. Besser als jede noch so perfekte Umfrage zeigt die Sitzverteilung in der neuen Duma, auf welche Streitmacht sich die Parteiführer dabei stützen können. Endgültige Klarheit darüber aber herrscht erst, wenn die Direkt- und Überhangmandate vergeben sind. Bis dahin ist maximale Vorsicht angesagt, um potenzielle Bündnispartner nicht zu verprellen.

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