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Scharia in Pakistan: Welche Folgen hat das für die Region?

Pakistan will an der Grenze zu Afghanistan islamisches Recht einführen. Welche Auswirkungen hat das?

Offiziell spricht man in Pakistan von einem Friedensabkommen. Doch faktisch kommt der Pakt einer Kapitulation vor den Taliban gleich. Pakistans Regierung will dem Terror nachgeben und im Swat-Tal in der Nordwestprovinz des Landes das islamische Recht, die Scharia, einführen. Im Gegenzug sollen die dortigen Militanten ihre Waffen niederlegen.

In Washington und Neu-Delhi beobachtet man den Deal mit Besorgnis. Auch die Nato zeigte sich am Dienstag alarmiert. Man fürchtet ein falsches Signal – vor allem für Afghanistan. Niemand stellt mehr infrage, dass Frieden in Afghanistan nicht ohne Pakistan möglich ist. Solange in Pakistan Al Qaida, Taliban und andere Extremisten Zuflucht finden und ihr Unwesen treiben, können sie von dort aus in Afghanistan oder andernorts zuschlagen. Befürchtet wird, dass das dubiose Tauschgeschäft im Swat-Tal den Anti-Terror-Krieg in der Region schwächt. Zum einen, weil die Fundamentalisten dort einen weiteren sicheren Hafen finden könnten. Zum anderen, weil die Atommacht Pakistan damit vor der Gewalt einknickt und der Taliban-Bewegung weiteren Aufwind gibt. Die Taliban feierten den Deal am Dienstag mit einer Siegesparade im Swat-Tal – eine Demütigung der Regierung.

Warum lässt sich Pakistan auf diesen heiklen Deal ein?

Die Situation im Swat-Tal – und nicht nur dort – ist dramatisch. Das Tal ist binnen kürzester Zeit vom Urlaubsziel zu einer Hochburg lokaler Taliban geworden, die dort eine Parallelregierung errichtet haben und die Bevölkerung terrorisieren. Videoshops und Friseurgeschäfte wurden verwüstet, 180 Schulen niedergebrannt. Mädchen wurde der Schulbesuch ganz verboten, Jungen werden in Koranschulen gedrängt, Frauen müssen sich unter Burkas verstecken. Und der Staat kann die Menschen nicht schützen. Seit 2007 versuchen im Swat-Tal 12 000 Soldaten etwa 3000 Militante niederzuschlagen – ohne Erfolg. Die Menschen, von denen die meisten die Taliban ablehnen, sind verzweifelt und hilflos. 500 000 der 1,8 Millionen Einwohner sollen vor Kämpfen und Terror geflohen sein. Tausende haben den umstrittenen Deal mit den Taliban angeblich in den Straßen bejubelt. Sie sehnen sich nach Frieden.

Faktisch würde sich durch die Scharia für die Einwohner indes nicht mehr viel ändern. In dem Gebiet wurde bereits wiederholt islamisches Recht eingeführt. Und schon jetzt leben die Menschen mit der Religionsdiktatur der Taliban. Scharia-Gerichte fällen Schnellurteile. Angebliche Sünder werden geköpft. Pakistans Regierung verteidigte den Friedensvertrag: Das geplante Recht sei weniger martialisch als das der Taliban in Afghanistan. Die Scharia wurde von den Taliban in Afghanistan besonders drakonisch ausgelegt. Öffentliches Steinigen gehörte zu den Strafen. Ehebruch wurde beispielsweise mit dem Tod bestraft und Dieben wurden die Hände abgehackt.

Sabotiert der „Verbündete“ Pakistan damit nicht den Anti-Terror-Kampf der USA?

Die Idee, Teile der Taliban einzubinden und von unbeirrbaren Extremisten zu isolieren, wird auch in Afghanistan diskutiert. Dort kämpfen die Taliban gegen die Regierung von Präsident Hamid Karsai und gegen die Truppen der USA und der Nato. Pakistans Regierung hofft, mit dem Pakt einen Keil zwischen Terroristen und religiöse Fundamentalisten zu treiben. Ziel ist es, die konservativen, aber „moderateren“ Kräfte zu befrieden. Ob die Rechnung aufgeht, ist allerdings fraglich. Es ist nicht der erste Versuch dieser Art. Bereits in den vergangenen Jahren gab es ähnliche Vorstöße, die aber scheiterten. Die Taliban nutzten die Waffenruhe, um sich neu zu formieren und ihre Herrschaft auszuweiten.

Der dubiose Friedensdeal spiegelt auch Konflikte in der militärischen und politischen Führung wider. Diese ist sich über den Umgang mit den Taliban uneinig. Teile des Militärs halten die Taliban und andere Extremisten weiter für hilfreiche Kettenhunde, die sie in Afghanistan und Indien loslassen können. Mit dem schlagzeilenträchtigen Schritt könnte die Regierung aber auch schlicht bezwecken, den Westen aufzuschrecken – um mehr Gelder für Pakistan loszueisen.

Wie brisant ist die Lage in Pakistan?

Der Regierung entgleitet die Kontrolle über immer mehr Teile des Landes. Der Taliban-Aufstand wird zum Flächenbrand und schwappt aus den rückständigen Grenzprovinzen ins „moderne“ Pakistan über. Das Swat-Tal ist kein wildes Stammesgebiet direkt an der Grenze zu Afghanistan, sondern liegt nur 160 Kilometer oder zwei bis drei Stunden Autofahrt von der Hauptstadt Islamabad entfernt. Noch vor kurzem war es ein beliebtes Ferienparadies für Flitterwöchler, Trekker und Skifahrer. Und nun ist es in der Hand der Taliban. Das schockt viele Pakistaner zutiefst. Selbst in Lahore, der Hauptstadt der mächtigen Provinz Punjab, mehren sich Anzeichen einer Talibanisierung. Dort explodierten in jüngster Zeit eine Reihe kleinerer Bomben in Theatern. Und am Dienstag wurde auf einen Stammesfürsten im Nordwesten Pakistans, der sich gegen die Extremisten gestellt hatte, ein weiterer Bombenanschlag verübt.

Pakistans Präsident Asif Ali Zardari warnte am Wochenende, es gehe ums Überleben Pakistans. Die Taliban versuchten, die Macht zu übernehmen. Im Nachbarland Indien nimmt man die Gefahr ernst. Medien meinten, die Taliban könnten bald vor den Toren Islamabads stehen. Damit sähe es auch für Afghanistan düster aus. Von dem Schreckensszenario, dass die Islamisten die Macht über das Nukleararsenal Pakistans erhalten könnten, ganz zu schweigen. Das Land verfügt nach einer aktuellen Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik bereits über schätzungsweise 40 bis 50 Kernwaffen. Die genaue Zahl ist nicht bekannt. Pakistan wolle seinen Bestand an Atomwaffen aber noch deutlich vergrößern, heißt es in der Studie weiter.

Was regelt die Scharia?

Scharia heißt „Weg zur Tränke“ und ist das religiös begründete Recht des Islam. Es umfasst die fünf Grundpflichten des Muslim: Glaubensbekenntnis, Gebet, Fasten im Ramadan, Almosen für die Armen und die Pilgerfahrt nach Mekka. Es beinhaltet auch ethische Normen für ein gutes und gottesfürchtiges Leben sowie Rechtsgebiete wie Erbrecht, Familienrecht, Prozessrecht, Staatsrecht, Steuerrecht und Strafrecht. Immer wieder haben muslimische Gruppen versucht, die „reine“ Scharia gegen weltliche Vorschriften und Gerichte durchzusetzen.

In den meisten arabischen Staaten ist dieser Streit entschieden, hier beschränkt sich die Scharia auf das Erb-, Ehe- und Familienrecht. Die Grundgesetze in Ägypten, Bahrain, Jemen, Kuwait, Libanon, Libyen, Sudan, Syrien sowie den Vereinigten Arabischen Emiraten erkennen die Scharia zwar ausdrücklich als Quelle der Rechtsschöpfung an. Alle Länder aber haben ein duales Rechtssystem: Die religiösen Gerichtshöfe sind für das Personenstandsrecht zuständig, die säkularen Gerichte für das Zivil-, Prozess- und Strafrecht.

Einzige Ausnahmen sind Saudi-Arabien und der Iran, wo religiöse Gerichtshöfe für alle Rechtsfragen zuständig sind. Beide Staaten fallen seit Jahrzehnten bei Menschenrechten, durch Justizwillkür und mit Todesstrafen besonders negativ auf. So verletzt das saudische Justizsystem für Amnesty International „in puncto Fairness und Gefangenenrechte selbst die einfachsten Normen“, wie die Organisation vergangene Woche vor dem UN-Menschenrechtsrat in Genf erklärte. Politische Betätigung, Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit und Versammlungsfreiheit seien stark eingeschränkt. Da in der Ölmonarchie neben der Scharia kein weltliches Strafrecht existiert, fehlen gesetzlich fixierte Strafrahmen. Stattdessen sind die Angeklagten der Willkür der geistlichen Richter ausgesetzt, die bei der Auslegung und Anwendung islamischer Rechtstexte einen sehr breiten Ermessensspielraum haben.

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