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Politik: Schnelle Hilfe per Fragebogen

Mit neuen Methoden gehen Orthopäden jetzt gegen Rückenschmerz vor

Vier Fünftel aller Bundesbürger erkranken im Lauf des Lebens irgendwann einmal an Rückenschmerzen. Die „Chancen“, diese Erfahrung zu machen, stehen leider gut. Der Schmerz bleibt aber für die allermeisten glücklicherweise auch im Wiederholungsfall Episode. „90 Prozent unserer Patienten sind nach spätestens drei Monaten schmerzfrei, und das mit einfachen Maßnahmen“, sagte der niedergelassene Orthopäde Hermann Locher aus Tettnang am Bodensee kürzlich beim ersten gemeinsamen Kongress der Orthopäden und Unfallchirurgen in Berlin, den er mitorganisiert hatte.

Bei einer Minderheit aber wird der Rückenschmerz zum Dauerproblem. Schon länger suchen Orthopäden und andere Schmerzspezialisten nach klaren Anhaltspunkten, um diese Gefahr früh zu erkennen. Mit der rein beschreibenden Diagnostik, die den Schmerz lediglich lokalisiere, komme man da nicht weiter, kritisiert Locher. „Wir brauchen ein System zur Risikoabschätzung schon beim Erstkontakt.“ Denn eine Chronifizierung der Schmerzen ist nur zu verhindern, wenn man früh erkennt, ob jemand zur kleinen Gruppe der Gefährdeten gehört.

In Zusammenarbeit mit der Internationalen Gesellschaft für Orthopädische Schmerztherapie (IGOST) wurde an der Uni Heidelberg ein Fragebogen entwickelt, der diesen Zweck erfüllen soll. Mit fast 80-prozentiger Sicherheit kann er die Patienten identifizieren, bei denen der Rückenschmerz sich dauerhaft einzunisten droht. Gleich bei ihrem ersten Besuch kann der Orthopäde jetzt die Schmerzgeplagten bitten, zehn gezielte Fragen zu beantworten. Sie beziehen sich nicht nur auf die Intensität des Schmerzes, sondern auch auf die Stimmung der Geplagten und ihre Interpretation des Geschehens. Inzwischen kennt man nämlich schon einige Faktoren, die dazu beitragen, dass aus dem „Hexenschuss“ oder anderen akuten Rückenbeschwerden ein hartnäckiger Begleiter wird, der nicht nur beträchtliche Gesundheitskosten verursacht, sondern auch an der Lebensfreude knabbert und häufig die Frühverrentung erzwingt.

Mechanische Belastungen, die meist als Ursache gesehen werden, sind dafür nur in den seltensten Fällen ausschlaggebend. Es leistet der Chronifizierung aber Vorschub, wenn man aus Angst vor Schmerzen jede falsche Bewegung vermeidet und jede vermeintlich gefährliche Aktivität unterlässt. Von chronischen Beschwerden sind außerdem eher Menschen bedroht, die das Gefühl haben, in vielen Lebensbereichen von der Macht anderer abhängig und dem Lauf der Dinge schutzlos ausgeliefert zu sein. Aufschlussreich ist auch, ob Rückenschmerz-Patienten sich von Massagen Linderung versprechen. „Die Neigung dazu, passive Therapiemaßnahmen als positiv zu erleben, ist ein Risikofaktor für die Chronifizierung“, sagt Locher.

Um zu vermeiden, dass der Schmerz sich verselbstständigt und zum eigenen Leiden wird, sollte er bei Patienten, deren Testergebnis auf ein hohes Risiko hinweist, schnell und effektiv ausgeschaltet werden, zum Beispiel mit Spritzen, fordert Locher. Dafür sprechen zwei Gründe. Erstens ist das Ausschalten des akuten Schmerzes oft die Voraussetzung dafür, dass man sich überhaupt wieder bewegen und das normale Leben fortsetzen kann. Aktivität gilt in der Fachwelt heute als die richtige Strategie im Kampf gegen den Rückenschmerz.

Zweitens hofft man so auch zu verhindern, dass ein „Teufelskreis“ in Gang kommt. Heute weiß man, dass der Schmerz im Gehirn seine Spuren hinterlässt. Lange Zeit waren Neurowissenschaftler der Meinung, dort, in der Zentrale, ändere sich beim Erwachsenen nicht mehr viel. Vor allem die Forschungen der Psychologin Herta Flor, die den Lehrstuhl für Neuropsychologie der Uni Heidelberg innehat, haben aber zu neuen Erkenntnissen geführt. Sie konnte nachweisen, dass sich durch Dauerschmerz die Repräsentanzen verändern, die im Gehirn für Informationen aus verschiedenen Körperregionen gebildet wurden. In diesen Niederlassungen treffen die Nervenimpulse aus der entsprechenden Region ein und hinterlassen Spuren. Wenn der Rücken über längere Zeit wehtut, wird das entsprechende Hirnareal größer.

Doch dieser Prozess gilt als umkehrbar. Schmerzspezialisten setzen inzwischen darauf, das krank machende Programm zu „überschreiben“. „Der Schlüssel zum Erfolg gegen die Schmerzkrankheit liegt in einer zweiteiligen Therapie aus Schmerzmedikamenten und Verhaltenstherapie“, sagt etwa Walter Zieglgänsberger vom Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München. So gesehen, sind auch Schmerzmittel manchmal eine Art Gehhilfe, die der Orthopäde verordnet, um seine Patienten wieder mobil zu machen.

Weiteres im Internet:

www.agr-ev.de

Adelheid Müller-Lissner

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