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Politik: „Schröder flüchtet wie Lafontaine 1999“

Schulz über Brioni-Mäntel und Unmut im Osten

Sind Sie auch empört über Edmund Stoibers Bemerkung zu den Ostdeutschen?

Mir ist der Wahlkampf zu inhaltsleer. Stoibers Aussage war knallig daneben. Er hat erneut Klischees und Ressentiments bedient. Wie etliche andere haut er den Osten pauschal in die Pfanne. Die entscheidenden Fragen stellt er nicht: Warum gibt es da so viel Unmut, was hat die Politik falsch gemacht?

Die Kritik des CSU-Chefs zielt auf die Wähler der PDS. Sind das alles Frustrierte?

Natürlich gibt es im Osten eine gewisse Perspektivlosigkeit. Hier ist die Politik gefragt, Antworten zu geben, Hoffnung zu stiften. Stattdessen werden große Worte geschwungen. Der Kanzler sagt „Chefsache Ost“ und es wird zur Nebensache seiner politischen Tätigkeit. Der andere, Stolpe, ist der große Aufbauminister – außer mau und Maut nichts zu hören. Und Thierse: Er sah den Osten auf der Kippe. Dort hat er ihn stehen lassen.

Sind die Grünen vor Fehltritten wie dem von Stoiber gefeit?

Auch in meiner Partei gibt es Defizite im Verständnis der Probleme im Osten, durchaus.

Sie beklagen einen flachen Wahlkampf. Wie wollen Sie die Debatten befruchten, wenn Sie selbst gegen die Wahl sind?

Ich bin nicht gegen die Wahl, ich will nur einen verfassungsmäßigen Weg dahin. Die Folge der vorgezogenen Wahl ist natürlich eine gewisse Konzeptionslosigkeit. Rot-Grün startet ja nicht offensiv in den Wahlkampf, Schröder und Fischer stellen sich eben leider nicht gemeinsam mit ihrer Bilanz dem Wähler. Aber wir Bündnisgrüne immerhin sind recht gut aufgestellt und ich hoffe, wir können unser Ergebnis von 2002 halten oder verbessern. Ich werde in Pankow alles dafür tun.

Welches Motiv für die Neuwahl vermuten Sie bei Schröder?

Ich halte es für eine Flucht aus der Verantwortung, ähnlich wie 1999 bei Oskar Lafontaine. Der Abgang durch Wahlen ist nur eine etwas andere Variante. Wenn man eine Agenda 2010 auflegt, kann man nicht 2005 das Handtuch werfen. Sondern dann muss man das vorleben, was man von der Bevölkerung erwartet – Ausdauer und Beharrlichkeit. Wir sind nicht gewählt worden, um nur in Schönwetterzeiten mit Brioni-Mantel und Zigarre vor dem Brandenburger Tor zu stehen.

Sie haben am 1. Juli, in der Bundestagsdebatte über Gerhard Schröders Antrag auf Auflösung des Bundestages, eine Parallele zur Volkskammer gezogen. Tragen Ihre Parteifreunde Ihnen das nach?

Zur Partei gehört ja nicht nur das aufgeregte Establishment. Von der Basis habe ich viel Zustimmung bekommen. Ich habe das mit der Volkskammer bewusst gesagt. Über Begriffe wie Tollhaus oder absurdes Theater regt sich doch niemand mehr auf. Wir müssen verhindern, dass der Bundestag nicht mehr ernst genommen wird. Warum werden denn mehr Talkshows angeguckt als die aktuellen Debatten des Bundestags?

Zu welchem Umgang mit der Linkspartei raten Sie?

Er muss nüchtern sein, entkrampft. Wir haben es mit dem erfolgversprechendsten Versuch der Westausdehnung der PDS zu tun. Ich habe mir in den 90er Jahren den Mund fusselig geredet bei meinen Parteifreunden: Entscheidend ist, gesamtdeutsche Partei zu werden. Wir haben das nicht so richtig geschafft, obwohl wir die bessere Ausgangssituation hatten. Wenn jetzt die große Koalition kommen sollte, unter Führung der CDU, werden wir es mit einer geschwächten, Wunden leckenden SPD zu tun bekommen. Und die populistische Opposition der Linkspartei würde ihre inneren Kämpfe überwinden können, sich im Parlament zusammenraufen zu einer Formation.

Wieso plant eigentlich niemand Schwarz- Grün?

Das muss man die CDU fragen, aber auch manche im grünen Spitzenteam. Im Moment ist alles offen, es ist ja Villa Kunterbunt in diesem Land. Der Blick auf das Hier und Jetzt greift zu kurz. In Zukunft brauchen wir strategischen Spielraum. Dann sollte man über alles reden und auch die Chancen für eine schwarz- grüne Option sondieren. Es wäre gut, den Mut zu haben, über die große Koalition hinauszudenken.

Das Gespräch führten Matthias Meisner und Matthias Schlegel.

Werner Schulz (55), geboren in Zwickau, ist seit 1990 Bundestagsabgeordneter

von Bündnis 90/Die

Grünen. Er kämpft in Berlin-Pankow um ein Direktmandat – mit Außenseiterchancen.

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