zum Hauptinhalt

Politik: Schutz für Gott – nicht für Frauen

Scharia gegen Bürgerrechte: Ägyptens Verfassungsentwurf stößt auf Ablehnung.

Kairo - Die Verfassung entzweit Ägypten. In Alexandria bewarfen sich am Freitag Anhänger der Islamisten und der säkularen Opposition mit Steinen, in Kairo versammelten sich rund 2000 Anhänger des islamistischen Präsidenten Mohammed Mursi vor einer Moschee, um ihre Zustimmung auszudrücken.

Doch nun sollen die 51 Millionen Bürger an den Urnen entscheiden. Die Befürworter werben mit dem Slogan „Ja zur Verfassung ist ein Ja zum Islam“. Die Opposition schaltet große Anzeigenseiten; Säkulare und Liberale wehren sich gegen den hohen Stellenwert der Scharia.

Im Kern der Auseinandersetzung steht Artikel 2, der die Prinzipien der Scharia als die Quelle des Rechts fixiert. Anders als in der Vorgängerverfassung wird die Rolle der Scharia diesmal in weiteren Artikeln präzisiert und ausgebaut – und bietet daher aus Sicht der Kritiker dem Gesetzgeber eine Handhabe, den Menschen künftig einen islamisch-konservativen Lebensstil aufzuzwingen oder auch Körperstrafen zu erlauben. So definiert Artikel 219 die Prinzipien der Scharia als „die allgemeinen Grundlagen, Regeln und Auslegungen sowie alle Quellen, die von der Lehre des sunnitischen Islams und der allgemeinen Mehrheit akzeptiert sind“. Artikel 4 gewährt darüber hinaus den Islamgelehrten der Al-Azhar-Anstalt in allen Scharia-Fragen das letzte Wort und damit ein zentrales Mitspracherecht bei künftigen Gesetzen.

Zudem enthält die neue Verfassung eine Reihe sehr vage formulierter moralischer und sozialer Staatsziele, die der Auslegung breiten Spielraum lassen. Artikel 10 bestimmt Religion, Patriotismus und Moral zu den Grundlagen der ägyptischen Familie. Der Staat habe die Aufgabe, diesen „wahren Charakter der ägyptischen Familie“ ebenso zu schützen wie „Ethik, öffentliche Moral und öffentliche Ordnung“, wie es Artikel 11 formuliert.

Die Glaubenspraxis wird in Artikel 43 ausdrücklich garantiert, jedoch nur für die „göttlichen Religionen“ Judentum, Christentum und sunnitischen Islam. Nach den Artikeln 31 und 44 ist es verboten, individuelle Personen beziehungsweise Propheten oder Gesandte Gottes zu beleidigen – beides Gummiparagrafen. Schon jetzt haben in Ägypten Anklagen wegen „Verunglimpfung der Religion“ stark zugenommen ebenso wegen „Verunglimpfung der Justiz“ oder „Verunglimpfung des Präsidenten“.

Kritiker vermissen zudem wichtige soziale Schutzrechte für Frauen und Kinder. So wird Kinderarbeit in der neuen Verfassung nicht ausdrücklich unter Strafe gestellt. Ein Verbot von Kinderhandel und Zwangsverheiratung minderjähriger Mädchen fehlt – in Ägypten nach wie vor ein weitverbreiteter Missstand. In der Präambel der Verfassung ist die Gleichheit von Mann und Frau lediglich allgemein festgeschrieben. Ein eigener Artikel, der die Frauenrechte garantieren sollte, wurde gestrichen. Dessen Reste stehen nun im Familienartikel 10, der Kinderbetreuung und ärztliche Versorgung der Kinder staatlich garantiert, „um Frauen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu ermöglichen“. Ein Fortschritt sind staatliche Fürsorge und Schutz für Alleinerziehende, Geschiedene und Witwen – das gab es bisher nicht. Denn die Scheidungsraten in Ägypten klettern rasant, sie liegen bei jungen Paaren in den Städten oft nahe 50 Prozent. Und meist gehen die Frauen leer aus. Martin Gehlen

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false