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Karl Lauterbach (SPD), Bundesminister für Gesundheit, geht durchs Plenum im Bundestag.

© Michael Kappeler/dpa

Schwarzer Tag für Lauterbach: Wie die Impfpflicht im Bundestag gescheitert ist

Der Gesetzesentwurf für eine Impfpflicht ab 60 hat im Bundestag keine Mehrheit bekommen. Eine Rekonstruktion, wie es dazu kommen konnte.

Der Gesundheitsminister tritt ans Rednerpult für ein letztes Plädoyer für die Impfpflicht. „Wir brauchen heute noch einmal ihre staatstragende Unterstützung, um im Herbst anders dazustehen, als wir jetzt dastehen“, sagt Karl Lauterbach. Es ist ein Appell an die Abgeordneten der Unionsfraktion, mit der es bis zuletzt keine Einigung gab.

Der Gesundheitsminister mahnt: Die Gesellschaft solle sich nicht gewöhnen daran, dass jeden Tag 200 bis 300 Menschen sterben. Eine Impfpflicht für über 60-Jährige könne 90 Prozent der Corona-Todesfälle vermeiden. „Wir haben es in der Hand“, sagt Lauterbach. „Heute ist der Tag der Entscheidung.“

Für den Gesundheitsminister ist es wohl der wichtigste Tag seiner bisherigen Amtszeit. Immer hatte er mit Verve für eine Impfpflicht geworben. Zuletzt hatte er sich hinter den Kompromiss für eine sofortige Impfpflicht ab 60 gestellt. Doch nach mehrstündiger Debatte und Gezerre um die Abstimmungsreihenfolge ist am Donnerstag klar: Das politische Projekt der sofortigen Einführung einer Impfpflicht ist gescheitert. Nicht nur für Lauterbach, auch für Kanzler Olaf Scholz und Teile der Ampel ist das ein schwarzer Tag.

Am Donnerstagmorgen wagen viele keine Prognose

Im politischen Berlin wagen am Donnerstagmorgen viele keine Prognose, wie die Abstimmung ausgeht. Vor dem Parlament demonstrieren Grüppchen von Querdenkern. Der Bundestag ist voll. Nach einer Stunde Debatte trifft auch der Kanzler ein. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock kommt mit Verspätung, sie ist vom Nato-Gipfel in Brüssel eingeflogen – es soll nicht an ihrer fehlenden Stimme scheitern. Die Stimmung unter der Reichstagskuppel ist angespannt.

Nachdem in der Politik eine Corona-Impfpflicht lange ausgeschlossen worden war, drehte sich wegen der hohen Krankenhausbelastung und Infektionszahlen im vergangenen November die Stimmung. Immer mehr Politiker:innen sprachen sich plötzlich für eine Impfpflicht aus.

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Die Ampel verlegte sich früh darauf, die Abstimmung zur Gewissensentscheidung zu erklären und den Fraktionszwang aufzuheben – denn innerhalb der Ampel gingen die Meinungen weit auseinander. Eine eigene Mehrheit für eine Impfpflicht hätte sie nicht zu Stande bekommen. Die Folge waren mehrere Gruppenanträge. Doch im Laufe der Zeit wurde immer deutlicher, dass auch davon keiner eine einfache Mehrheit bekommen würde.

Kurz vor knapp einigten sich nach vier Monaten Debatte die Befürworter einer Impfpflicht ab 18 um die SPD-Abgeordnete Heike Baehrens sowie die Befürworter einer Impfpflicht-Option ab 50 Jahren um den FDP-Abgeordneten Andrew Ullmann auf einen Kompromiss. Dieser sah eine Beratungspflicht für Ungeimpfte zwischen 18 und 59 und eine Impfpflicht ab 60 Jahren vor, mit der Option im Herbst noch eine Impfpflicht ab 18 zu beschließen.

Bundeskanzler Scholz und Bundesgesundheitsminister Lauterbach bei der Abstimmung über eine Impfpflicht.
Bundeskanzler Scholz und Bundesgesundheitsminister Lauterbach bei der Abstimmung über eine Impfpflicht.

© Kay Nietfeld/dpa

Der Kompromissvorschlag aus den Reihen der Ampel liegt am Donnerstag als einzig ausgearbeiteter Gesetzesentwurf vor. Die Gruppe um den FDP-Abgeordneten Wolfgang Kubicki ist gegen eine Impfpflicht, genauso wie die AfD. Die Union fordert in ihrem Antrag zuerst den Aufbau eines Impfregisters und die Verabschiedung einer Impfpflicht auf Vorrat.

Die Befürworter der Impfpflicht aus den Ampel-Parteien werben in der Debatte noch einmal eindringlich. „Das Virus wird nicht einfach verschwinden“, erklärt die SPD-Vizefraktionschefin Dagmar Schmidt. Auch angesichts der Folgen des Ukraine-Krieges mahnt sie: „Wir haben heute die Chance, im Herbst nicht auch noch mit den Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung zurechtkommen zu müssen.“

Der Grünen-Gesundheitspolitiker Janosch Dahmen sagt: „Die Prävention mit der Impfpflicht bringt uns raus aus dieser Pandemie.“ Eine Impfpflicht ab 60 sei wirksam, rechtssicher und vernünftig.

Immer wieder gibt es wütende Zwischenrufe und aufgebrachte Wortmeldungen aus der AfD-Fraktion. AfD-Fraktionschefin Alice Weidel wirft der Regierung vor, verfassungsfeindlich zu handeln, wenn sie sich anmaße, das Recht auf körperliche Unversehrtheit „nach Belieben umzubiegen“. „Die Impfpflicht ist nicht nur radikal verfassungsfeindlich, sie ist eine totalitäre Anmaßung, eine Entwürdigung des Individuums.“

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Groß ist am Donnerstag aber auch die Kritik aus der Ampel an der Unionsfraktion. Der Vorwurf: CDU und CSU seien nicht kompromissbereit. Darüber hinaus handhabe die Unionsfraktion die Abstimmung eben nicht als Gewissensentscheidung, der Fraktionszwang sei nicht aufgehoben. Die Unionsabgeordneten seien von der Fraktionsführung angehalten worden, für den Unionsantrag zu stimmen.

„Sie wollen aus parteitaktischem Kalkül die Abstimmung zum Scheitern bringen“, ruft die SPD-Abgeordnete Heike Baehrens. Unionsfraktionschef Friedrich Merz will das nicht auf sich sitzen lassen.

Friedrich Merz, CDU-Bundesvorsitzender und Unions-Fraktionsvorsitzender.
Friedrich Merz, CDU-Bundesvorsitzender und Unions-Fraktionsvorsitzender.

© Kay Nietfeld/dpa

Bis auf sehr wenige Ausnahmen sei die Unionsfraktion einer Meinung, was die Impfpflicht betreffe. Deswegen gebe es einen gemeinsamen Antrag. Dass die Union überhaupt so im Fokus stehe, liege doch nur daran, dass die Ampel auf Grund der Ablehnung der FDP keine eigene Mehrheit habe. „Wenn Sie es wirklich ernst meinen mit einem Kompromiss, dann manipulieren Sie nicht die Reihenfolge der Abstimmungen“, ruft Merz.

Gemeint ist damit der Streit um die Reihenfolge der Abstimmungen. Die Union findet, es solle bei der parlamentarischen Gepflogenheit bleiben, dass der weitestgehende Antrag zuerst abgestimmt wird – das wäre die Impfpflicht ab 60. Wenn dieser durchfällt, hätten dessen Befürworter noch die Möglichkeit, einem weniger weitgehenden Antrag zuzustimmen.

In der Ampel wollen es viele genau andersrum machen und als letztes über die Impfpflicht als 60 abstimmen – was deren Chancen erhöhen würde. Es wird hitzig. Man wirft sich gegenseitig „schäbiges“ Verhalten und „billiges machtpolitisches Kalkül“ vor. Am Ende setzt sich die Union durch – ein Zeichen dafür, dass die Ampel auch bei dieser Abstimmung nicht geschlossen war.

Als das Ergebnis verlesen wird, herrscht Stille

Es folgt die wichtigste Abstimmung an diesem Tag: Die Abstimmung über den Gesetzesentwurf für die Impfpflicht ab 60 Jahren. Als das Ergebnis verlesen wird, herrscht Stille im Bundestag: 296 Ja-Stimmen, 378 Nein-Stimmen – ein eindeutiges Votum. Die AfD jubelt laut. Die Parlamentspräsidentin bittet um Mäßigung.

Hinterher werden Abgeordnete wie Justizminister Marco Buschmann, Fraktionschef Christian Dürr oder Finanzminister Christian Lindner eine Erklärung verbreiten, warum sie nicht zugestimmt haben.

Sie stören sich an der Einführung der Impfpflicht ab 60, weil diese ab Herbst greifen würde. Man wisse gar nicht, in welcher Situation man sich im Herbst befinde. Die Abgeordneten sind der Meinung, eine Impfpflicht könne nicht ausreichend gut begründet werden. Aktuell drohe keine Überlastung des Gesundheitssystems, auch weil die Omikron-Variante zu weniger schweren Verläufen führe.

Auch könne niemand das Versprechen abgeben, dass eine heute eingeführte Impfpflicht verhindere, dass es im Herbst erneut Corona-Schutzmaßnahmen braucht.

Die anderen Abstimmungen gehen nun schnell über die Bühne: Auch die Anträge der Union, der AfD und der Gruppe um den FDP-Mann Kubicki bekommen keine Mehrheit. Für Gesundheitsminister Lauterbach ist das kein Trost.  „Einziger Gesetzentwurf, der die allgemeine Impfpflicht gebracht hätte, ist gerade gescheitert“, twittert er. „Jetzt wird die Bekämpfung von Corona im Herbst viel schwerer werden. Es helfen keine politischen Schuldzuweisungen. Wir machen weiter.“

In den vergangenen Wochen hatte es immer wieder Kritik an Lauterbach gegeben. Zuletzt musste er zurückrudern, nachdem er zunächst angekündigt hatte, Corona-Infizierte sollten sich ab Mai nur noch freiwillig isolieren. Das Scheitern der Impfpflicht ist eine weitere schwere Schlappe.

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