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Politik: Schweigen am Gleis

Vor zehn Jahren starben am Bahnhof von Bad Kleinen ein Polizist und ein RAF-Terrorist. Wer wen erschoss, ist bis heute umstritten. In dem Ort will kaum jemand mehr über den Vorfall reden

Ein Tag im Frühsommer. „Da, ein Hubschrauber“. Christian Poppe zeigt nach oben. „Wie damals.“ Von seiner Terrasse aus genießt er einen herrlichen Blick zum Schweriner See. Der 60-Jährige hatte vor zehn Jahren einen Logenplatz, als erst Geballer vom Bahnhof herüberwehte und dann Polizeihelikopter kreisten. Am 27. Juni 1993, als 44 Schüsse, zwei Tote und mehrere Verletzte Bad Kleinen aus seiner Idylle rissen. Eine kurze Zeit des Erwachens, dann schlummerte das Provinznest weiter.

Auch jetzt scheint die Sonne durch eine löchrige Wolkendecke. Christian Poppe blinzelt. Doch die beiden Sonntage könnten unterschiedlicher kaum sein. Und es scheint fast, als scheue der Ort im Herzen Mecklenburgs jeden Hinweis auf das größte Ereignis seiner 825-jährigen Historie. Wer nach Zeugnissen der Schießerei zwischen dem RAF-Mitglied Wolfgang Grams und der GSG 9 sucht, muss sich schon unter den 3197 Bewohnern umhören. Es gibt kein Mahnmal für den Grenzschützer, der tödlich getroffen auf Bahnsteig 3/4 zusammenbrach. Keine Tafel verweist auf den mutmaßlichen Selbstmord von Wolfgang Grams.

Doch, sagt Siegfried Friese, ein Denkmal existiert. Der Bürgermeister bückt sich zu einem verbogenen Gitterstab. „Hier ist eine Maschinengewehrsalve gelandet.“ Die Strebe im Geländer „haben wir erhalten“. Er schwenkt nach rechts. „Und da lag die Blutlache vom, wie hieß er noch?“. Newrzella, Michael, 25, vermutlich von Grams erschossen, als dieser im Fliehen auf sieben Verfolger feuerte. Friese fuchtelt mit den Armen: Patronenhülsen, überall.

Doch die Menschen im Dorf sind der Fragerei überdrüssig. Bad Kleinen? Da war doch was … Seit jenem Tag läuten im kollektiven Gedächtnis die Glocken. Wie bei Lichtenhagen, Gladbeck, Ramstein. Immerhin schwinde das Interesse, sagt ein Bewohner. Die ersten Wochen aber stand der Ort unter Belagerung – die Welt hatte ihre Augen auf ein Fleckchen Erde geworfen, von dem nur wenige wissen, in welchem Bundesland es liegt. Noch aufregender als das Ereignis selbst „waren die Tage danach, als hier vermummte Gestalten marschierten“, berichtet Apotheker Poppe über linke Protestdemos. Der damalige Bürgermeister Hans Kreher glaubte gar, „Bad Kleinen wird zum Wallfahrtsort für Linksextreme“. Zum Walhalla derjenigen, die der Theorie vom Mord an einem Staatsfeind anhängen. Die Akten sind geschlossen, doch das letzte Urteil ist keineswegs der Weisheit letzter Schluss. „Wir wissen schlichtweg nicht“, verkündete ein Richter 1998 am Landgericht Bonn, „was genau passiert ist“. Fall erledigt. Seither, sagt Hans Kreher, „ist alles ruhig“.

So ruhig wie vorigen Sonntag in diesem Dorf, das im Grunde nur aus Bahnhof besteht. Auf Bahnsteig 3/4 herrscht rheinisches Stimmgewirr, als um kurz vor halb zwei der Sonderzug nach Köln hält. Zehn Jahre zuvor betrat da gerade Birgit Hogefeld, dritte RAF-Generation, mit dem später als V-Mann enttarnten Klaus Steinmetz das Café auf der Plattform gegenüber. Stets im Visier von 35 Beamten der GSG 9 und 19 des BKA. Auf Bahnsteig 3/4 berlinert es laut, als um 14 Uhr der Regionalexpress gen Hauptstadt einfährt. 1993 holte Hogefeld da gerade Grams vom Zug ins frühere Mitropa-Restaurant. Es gab Würzfleisch. Auf Bahnsteig 3/4 ist es still, als um drei der Zug nach Lübeck einrollt. So still mag es auch gewesen sein, als sich das Trio in die Unterführung aufmachte.

Das ist ein Bahnhofstunnel wie viele andere. Ausgeleuchtet von einer Neonröhre und fahlem Tageslicht. Wer hier eintaucht, kann den Lärm abgefeuerter Schusswaffen erahnen: Eine mächtige Halle, ein guter Resonanzkörper. Grams, Hogefeld, Steinmetz schlenderten ihr entgegen, um 15 Uhr15, als der Zugriff erfolgte. Hogefeld ging ins Netz, nicht aber Grams, bis dahin nur wegen Paragraf 129a, Bildung einer terroristischen Vereinigung, gesucht. Laut Polizeiversion wurde er zehn Sekunden später zum Mörder. Auf Bahnsteig 3/4, wo Joanna Baron einen Logenplatz hatte. Sie wünscht sich indes, sie wäre nie dort gewesen. „Ich habe alles hinter mir, bitte!“ Durch die Luke ihres Kiosks, so gab sie einst zu Protokoll, hat die 44-Jährige Grams’ Hinrichtung beobachtet – durch Diener des Staates. Joanna Baron wurde von Polizei, Politik und Justiz demontiert. Dass niemand einen Suizid bezeugte, Spuren verschwanden, Videos lückenhaft waren, ist Teil der Legende.

Urda Klein (55) lässt das kalt. Sechs Tage die Woche steht sie an Joanna Barons altem Arbeitsplatz. Der Kiosk ist noch der alte, Kaffee 1,10. Der Rummel von ’93, sagt sie, „interessiert im Dorf keinen“. Anschlussreisende dagegen schon eher. „Eine Bockwurst, und sagen sie: War hier nicht mal … „Die Leute fragen immer, jeden Tag.“ Seit 1995, als sie den Pachtvertrag abschloss.

„Das Ganze war ja eher so eine Wessi-Angelegenheit“, meint Ex-Bürgermeister Kreher. „Arbeitslosigkeit, das hat die Leute interessiert“. Auch heute sucht jeder Sechste einen Job, alte Betriebe sind abgewickelt, der Bahnhof ist marode. Er war mal der größte Arbeitgeber im Ort. Auch Urda Klein hat die Bahn den Vertrag gekündigt. Von der „Sache mit dem Terroristen“ haben die Jugendlichen, die am Bahnhof abhängen, gehört. Mehr nicht. Jessica (15) will einen Film fürs örtliche Jugendfernsehen drehen. Über einen Tag im Frühsommer, zehn Jahre danach. Dann ist Ruhe, wahrscheinlich für immer.

Jan Freitag

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