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Politik: Sehnsucht nach dem erlösenden Wort (Leitartikel)

Spät sprach er, doch er sprach. Das lange Schweigen hat Bundespräsident Johannes Rau viel Kritik und auch den Verdacht eingebracht, er äußere sich nicht, weil er selbst in Nordrhein-Westfalen wegen Flügen, die die Westdeutsche Landesbank bezahlt hatte, in eine Affäre verwickelt sei.

Spät sprach er, doch er sprach. Das lange Schweigen hat Bundespräsident Johannes Rau viel Kritik und auch den Verdacht eingebracht, er äußere sich nicht, weil er selbst in Nordrhein-Westfalen wegen Flügen, die die Westdeutsche Landesbank bezahlt hatte, in eine Affäre verwickelt sei. Nun hat er gesagt, was zu erwarten war: dass die bekannt geworden Verstöße atemberaubend seien, vollständige Aufklärung Not tue, die Affäre aber nicht dazu führen dürfe, dass Politik und Parteien unter Pauschalverdacht gestellt werden. Wollten wir das wissen? Was wollten wir, wenn wir nach der Stimme aus dem Schloss Bellevue verlangten?

Es ist vielleicht das Bestürzende an diesem Skandal, dass die Bewegung, die er auslöst, über die CDU hinausdrängt - um so massiver, je weiter sich die Affäre in sie hineinbohrt. Es ist, gewiss doch, nicht die Demokratie, die bedroht ist, und auch die CDU wird sich eines Tages wieder fangen. Aber wenn eine Partei, die über die längste Zeit der Nachkriegsgeschichte diese Republik geformt hat, einen solchen dramatischen Absturz erfährt, entsteht das Gefühl eines Vakuums, das nach Ausfüllung, nach Halt verlangt. Erst recht ist das der Fall, wenn dieser Vorgang einhergeht mit dem beklemmenden Schauspiel des Niederganges eines Mannes wie Helmut Kohl - ein Monument, eine übergroße Landmarke, die jahrzehntelang das politische Gelände beherrschte.

Selbst der Ruf nach einem "Befreiungsschlag", nach irgendwelchen symbolisch-sichtbaren Akten, nach Rücktritten, Mandats-Niederlegungen und vorgezogenen Parteitagen, bezeugt noch dieses Bedürfnis. Es ist in Wahrheit ein Zeichen von Ratlosigkeit. Denn was hätte, zum Beispiel, der Rücktritt Schäubles gebracht - außer noch mehr Turbulenzen? Was der neue Name? Was ein Parteitag, der in dieser desolaten Situation aus dem Boden gestampft worden wäre? Doch etwas, so wünscht der Zeitgenosse, muss geschehen. Diese ungeheuren Vorgänge können nicht ohne Antwort, ohne korrigierende, die Dinge wieder ins Lot bringende Gegengewichte bleiben.

Nichts zeigt so sehr wie dieser Wunsch, dass dieser Skandal nicht nur den Umgang mit Parteispenden betrifft; um da das Bewusstsein von Recht und Billigkeit wieder herzustellen, genügten die Strafen des Parteiengesetzes. Die Sache geht tiefer, berührt den Kern des Politik: jene Handvoll Tugenden, Haltungen und Einstellungen, die das ganze politische Gewerbe im Gleichgewicht halten - Anstand, ein bisschen Moral, Ehrlichkeit, Achtung vor anderen, Bindung an Gesetz und Werte. Dabei wird man das Ausmaß, in dem Politik in unserer Gesellschaft noch eine orientierende, gar sinnstiftende Rolle hat, ohnedies nicht sehr hoch einschätzen können - wir alle, Politiker und Bürger, haben dafür gesorgt, dass da nicht sehr viel mehr als Routine und ein gewisser Unterhaltungswert übrig geblieben ist. Aber nun, wo die politische Welt aus den Fugen ist, sehnen wir uns nach dem lösenden, wegweisenden Wort, das sie wieder zusammenfügen soll.

Dabei sind wir aufgeklärt genug, um zu wissen, dass es keine Instanz gibt, die mit einem Wort, mit einem Schlag die Dinge wieder ins Rechte rücken kann. Die CDU wird durch das Fegefeuer gehen müssen, und Schäuble hat die undankbare Aufgabe, sie dabei zu führen. Aber auch die Öffentlichkeit wird sich von ihren Panik-Gefühlen frei machen müssen, um ihr Unterscheidungsvermögen wieder zu gewinnen. Und was den Bundespräsidenten angeht, so gehört das Gesund-Beten nicht zu seinen Amtspflichten. Aber seine Stellungnahme in dieser Sache ist notwendig.

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