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Politik: So viel gemeiner Sinn

DEBATTE ZUR FLUT

Von Antje Sirleschtov

Jedes Volk, heißt es, hat die Politiker, die es verdient. Das mag im Allgemeinen stimmen, doch vielleicht trifft es in Deutschland zurzeit nicht zu. Möglicherweise ist das Volk momentan besser als die Politiker. Zumindest als die Politiker denken.

Denn in der Not offenbarte sich das wahre Gesicht der Deutschen. Mit dem Tag, als aus ruhigen Bächen reißende Fluten wurden, hat diese alte Weisheit neue Aktualität bekommen. Nachbarn haben selbstlos Nachbarn unterstützt. Fremde sind Fremden zu Hilfe geeilt. Ein ganzes Volk ist bereit, ein Steuer-Opfer zu bringen. Egoismus, soziale Kälte, Gleichgültigkeit? Nein, die Deutschen beweisen eindrucksvoll, dass ihre totgesagte Zivilgesellschaft lebt. Dass sich die Bürger zutrauen, eine nationale Katastrophe gemeinsam zu überwinden, dass sie bereit sind, dafür Einbußen hinzunehmen.

Der Kanzler und sein Herausforderer haben das rhethorisch aufgenommen. Gerhard Schröder und Edmund Stoiber haben sich vor Ort ein Bild von der Not gemacht. Sie haben über Parteigrenzen hinweg beteuert, dass ihnen rasche finanzielle Hilfe für die Leidtragenden wichtig ist. Und sie haben letztlich beide die Sondersitzung des Parlamentes am Donnerstag dazu genutzt, die Kraft der Deutschen zum Gemeinsinn mit anerkennenden Worten zu beschreiben und die offensichtliche Bereitschaft der Menschen zum Opfer für andere zu loben.

Aber wem nutzt es, wenn die beiden Bewerber um das höchste Regierungsamt das Offensichtliche erkennen – und dann zur Tagesordnung übergehen? Ganze zwanzig Minuten benötigte der Kanzler, um den Menschen an diesem wichtigen Tag zu beweisen, dass einen Wahlkampf-Profi wie ihn selbst eine Hochwasserflut nicht aus der staatsmännischen Routine bringen kann. Mag sein, dass die Finanzierung des Solidarfonds „Fluthilfe“ besser durch eine Aussetzung der Steuerreform als durch den Griff in die Kassen der Bundesbank gelingen wird. Doch diese Erkenntnis verschafft vier Millionen Arbeitslosen keinen Job, verhilft der Wirtschaft nicht zu einem Aufschwung, weist keinen Weg aus dem Schuldenstaat. Welchen Beleg nannte Schröder dafür, dass sein Engagement an den Deichen nicht nur wahltaktisches Kalkül war, sondern dass er der bessere Manager in Krisenzeiten ist? Statt zu sagen, wie er das neidische Gezerre um jeden Spenden-Euro beenden und eine gerechte Verteilung der Fondsgelder organisieren will, ersetzt Schröder Kompetenz durch eine Kommission.

Und der Kanzlerkandidat? Edmund Stoiber provozierte seine Zuhörer mehr als doppelt so lang wie sein Vorredner mit den längst bekannten Phrasen eines Oppositionspolitikers, der ins Regierungsamt drängt. Auch der Bayer bot außer pathetischen Worten über den Schweiß am Deich nur die Fortsetzung seines Auftrittes im Fernsehduell an.

Wenn die Deutschen in drei Wochen zur Bundestagswahl gehen, erwarten sie vom nächsten Bundeskanzler jedoch mehr als das. Jeder weiß, dass die Wirtschaft Aufschwungimpulse braucht, der Arbeitsmarkt umgebaut werden muss und Gesundheits- wie Rentensysteme vor einer grundlegenden Umgestaltung stehen. In den kommenden Jahren wird sich beweisen, ob wir es schaffen, die Werte unserer Gesellschaft in die Zukunft zu retten oder sie im globalen Wettbewerb verlieren. Es gilt also, Wege zur Lösung der drängendsten Probleme der Gesellschaft zu finden. Die Deutschen wissen das. Sie haben gerade bewiesen, dass sie bereit sind, gemeinsam Antworten zu suchen und auch Zumutungen zu akzeptieren. Das war die Flut-Botschaft der Deutschen an die Politiker. Doch diese Botschaft ist untergegangen.

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