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Foto: Imago, Montage: Sabine Miethke

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SPD-Vorschlag zu Einwanderungsgesetz: Funktioniert das Punktesystem aus Kanada?

Fachkräfte sind in Deutschland rar. Daher will die SPD die Zuwanderung neu regeln - nach kanadischem Vorbild. Wie genau soll das funktionieren?

Über die Notwendigkeit eines Einwanderungsgesetzes redet SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann schon länger. Jetzt treibt seine Fraktion das Thema voran und legt ein Positionspapier vor, das das kanadische Punktesystem als Vorbild für Deutschland preist. Es soll die Debatte befeuern und Druck auf die zögernde Union entfalten.

Warum hält die SPD-Fraktion eine gesteuerte Einwanderung für nötig?

Oppermann warnt, dass Deutschland wegen des demografischen Wandels in den kommenden zehn Jahren bis zu 6,7 Millionen Erwerbstätige verlieren werde. Deshalb sei es dringend nötig, den erwarteten Rückgang des Arbeitskräftepotenzials zu verhindern. „Wir sollten die Einwanderung so steuern, dass sie hilft, Wohlstand und Arbeit in diesem Land zu erhalten“, sagt er. Ansonsten bestehe die Gefahr, dass die sozialen Sicherungssysteme nicht mehr finanziert werden könnten. Die gegenwärtige Einwanderung von EU-Bürgern nach Deutschland begrüßt der SPD-Politiker ausdrücklich. Er fürchtet aber, dass viele EU-Einwanderer wieder in ihre Heimatländer zurückkehren, wenn sich die wirtschaftliche Lage dort bessert. Deshalb will er den Zuzug von Menschen außerhalb der EU steigern. Denn auf die Zahl der Menschen, die als Flüchtlinge nach Deutschland kämen, habe die Politik keinen Einfluss.

Warum preist die SPD-Fraktion das kanadische Modell?

In Kanada gebe es einen gesellschaftlichen Konsens darüber, dass Einwanderung für das Land notwendig und nützlich sei, argumentiert Oppermann. Ein solche Konsens lasse sich auch in Deutschland erreichen, wenn das Thema nur breit und offen genug debattiert werde. Das Punktesystem hält der SPD-Politiker für ein vernünftiges und flexibles Instrument, das sich am tatsächlichen Bedarf des nationalen Arbeitsmarkts orientiert.

Um die Zuwanderung einfacher und attraktiver zu machen, will die SPD die Einwanderungsvorschriften mit bislang mehr als 50 Aufenthaltstiteln in einem eigenen Einwanderungsgesetz bündeln. Die seit 2012 gültige „Blue Card“ der EU, von der bislang nur 24 000 Spezialisten Gebrauch gemacht haben, soll durch ein flexibles Punktesystem ergänzt werden, das sich an bestimmten Kriterien orientiert. Ausländische Bewerber würden nach Alter, Ausbildung, Berufserfahrung und Sprachkenntnis eingestuft. Außerdem könnten bei Bedarf mehr Menschen mit einem bestimmten Abschluss oder Berufsbild angenommen werden, um besondere Branchenbedürfnisse zu erfüllen. Die Steuerung soll über eine jährliche Quote an Zuwanderern erfolgen. Die Aufenthaltserlaubnisse sollen zunächst für drei Jahre erteilt und dann entfristet werden können. Allerdings soll immer der ökonomische Bedarf ausschlaggebend sein. „Wenn wir keine Fachkräfte brauchen, würde ich die Einwanderungsquote auf null setzen“, sagt Oppermann. Eine solche Entwicklung hält er allerdings für höchst unwahrscheinlich.

Zudem setzen die Sozialdemokraten auf eine bessere und schnellere Anerkennung von ausländischen Abschlüssen. Derzeit arbeiteten noch bis zu 500 000 Einwanderer unterhalb ihrer Qualifikation. Zudem sollten mehr ausländische Studenten und Hochschulabsolventen gewonnen werden. Dazu will die SPD die Angebote zum Erwerb der deutschen Sprache ausbauen.

Wie sieht das System in Kanada aus?

Kanada fasst den Begriff Immigration weit. 2013 nahm das Land fast 260 000 Einwanderer auf. Auch die 24 000 Flüchtlinge fallen darunter. Kaum ein anderes Land nimmt gemessen an seiner Einwohnerzahl so viele Immigranten auf wie Kanada. Unter den Einwanderern stellen mit 148 000 die „economic immigrants“, die Wirtschaftsimmigranten, die größte Gruppe. Bekannt ist Kanada für das bereits in den 1960er Jahren eingeführte Punktesystem. Es soll sicherstellen, dass ausgebildete Kräfte, die sich in zumindest einer der offiziellen Sprachen – Englisch oder Französisch – verständlich machen können, nach Kanada kommen und integrationsfähig sind. Am Punktesystem hält Kanada fest. Maximal können 100 Punkte erreicht werden, es müssen aber mindestens 67 Punkte sein. So gibt es für die Sprachkenntnisse maximal 28 Punkte, für die Ausbildung bis zu 25 Punkte. Weitere Kriterien sind „Anpassungsfähigkeit“, Berufserfahrung, Alter und bereits in Aussicht gestellte Arbeitsplätze.

Das Punktesystem gilt weltweit als Modell, aber die Praxis offenbarte Schwachstellen. So war nicht immer sichergestellt, dass Einwanderer nach ihrer Qualifikation beschäftigt wurden und ihre Ausbildung anerkannt wurde. Das Verfahren führte zudem dazu, dass nach Eingang der Anträge entschieden wurde und hoch qualifizierte Kräfte nicht mehr berücksichtigt wurden, weil die maximale Aufnahmekapazität erschöpft war.

Deshalb wurde zu Jahresbeginn ein neues Verfahren in Kraft gesetzt. „Express Entry“ heißt das auf australischen und neuseeländischen Erfahrungen aufbauende System. Seit dem 1. Januar können potenzielle Einwanderer über die Website des Ministeriums ein Profil erstellen, zu dem auch das Ergebnis eines Sprachtests und die Einstufung nach dem Punktekatalog gehören. Aus diesem Pool werden nun in regelmäßigen Abständen entsprechend ihrer Qualifikation Kandidaten ausgesucht und aufgefordert, den Einwanderungsprozess fortzusetzen. Dies soll nach Angaben des Ministeriums sicherstellen, dass die Einwanderer den ökonomischen und Arbeitsmarktbedürfnissen entsprechen. Auch sollen künftig in einem früheren Stadium des Prozesses die Qualifikationen überprüft werden.

Steht die SPD geschlossen hinter dem Einwanderungskonzept?

Als Oppermann Anfang des Jahres sein Thema Einwanderungsgesetz präsentierte, murrten manche in der eigenen Partei. Zuerst müsste das Arbeitspotenzial von Frauen hierzulande ausgeschöpft und Geringqualifizierte besser fortgebildet werden, hieß es. Nun ist der Fraktionschef auf diese Kritik eingegangen und verspricht, „vorrangiges Ziel“ der Sozialdemokraten sei es, die in Deutschland lebenden Arbeitskräfte besser zu mobilisieren und zu qualifizieren. Allein mit einer höheren Erwerbstätigkeit von Frauen und umfangreichen Nachqualifizierungen werde es aber nicht gelingen, ausreichend neue Fachkräfte zu mobilisieren. Zudem verspricht der Fraktionschef, dass die Politik auf Alleingänge verzichtet und stattdessen in einem „engen Dialog“ mit Gewerkschaften und Arbeitgebern darauf achtet, dass die neuen Einwanderungskriterien auch „sozialverträglich“ ausgestaltet werden. Zu Deutsch: Sie sollen keine größere Gruppe von Einheimischen benachteiligen.

Die Union ist nicht begeistert - ihr geht das Ganze zu schnell

Was sagt der Koalitionspartner dazu?

Wichtige Unionspolitiker kritisierten den SPD-Vorstoß scharf. Er erwecke fälschlicherweise den Eindruck, die Einwanderungspolitik in Deutschland sei bisher ein rechtsfreier Raum. „Unsere Position ist eindeutig: Wir haben ausreichende Regelungen, die in der inhaltlichen Ausgestaltung nicht verändert werden müssen“, sagte CSU-Landesgruppenchefin Gerda Hasselfeldt. „Wir brauchen kein Einwanderungsgesetz.“ Die stark arbeitsplatzbezogenen deutschen Regelungen seien sinnvoll.

Innenminister Thomas de Maizière (CDU) reagierte zurückhaltend. Die geltende Rechtslage sei ausreichend und auch das EU-Recht nicht regelungsbedürftig. Kanada habe sich inzwischen der deutschen Regelung genähert. Allerdings wirbt CDU-Generalsekretär Peter Tauber seit Jahresanfang für ein Einwanderungsgesetz. Unterstützt wird er von einigen CDU-Ministerpräsidenten und jungen Bundestagsabgeordneten um Jens Spahn. CDU-Chefin und Bundeskanzlerin Angela Merkel will sich bislang nicht festlegen. Sie habe sich noch kein Urteil gebildet, sagte sie am Dienstag.

Wie aber passt der Widerstand von Hasselfeldt und de Maizière zur grundsätzlichen Begeisterung Taubers für ein Einwanderungsgesetz? Das sei kein unüberwindlicher Widerspruch, heißt es aus der Union. So bestehe die Möglichkeit, geltende Regelungen zu reformieren, ohne gleich ein neues Gesetz schreiben zu müssen. Die Initiative „CDU 2017“, ein Zusammenschluss junger CDU-Politiker, hatte am Sonntag ebenfalls eine Neuausrichtung der Einwanderungspolitik gefordert. Von Taubers Seite heißt es lediglich, er strebe vor allem einen innerparteilichen und gesellschaftlichen Diskurs an. Ein Gesetzesvorstoß sei in dieser Legislaturperiode keinesfalls das Ziel. Von der SPD wolle man sich jedenfalls nicht treiben lassen. Tauber wird in wenigen Tagen selbst nach Kanada reisen. Aber nicht, um sich in erster Linie über das Punktesystem zu informieren, sondern um zu lernen, wieso es den Kanadiern „sehr, sehr gut gelingt, aus Einwanderern Kanadier zu machen“.

Was passiert, wenn die Union sich weiter sperrt?

Oppermann drückt aufs Tempo: „Ich würde am liebsten alles umsetzen“, sagte er und meinte damit die laufende Legislaturperiode. „Die Debatte hat Fahrt aufgenommen, und ich möchte den Fahrtwind nutzen.“ Gerade eine große Koalition habe die Kraft, eine bislang strittige Frage in der Debatte zu klären und einen gesellschaftlichen Konsens darüber herbeizuführen. Für den Fall, dass die Union sich weiter sperren sollte, droht der Sozialdemokrat, dass seine Partei das Einwanderungsgesetz im nächsten Bundestagswahlkampf zum Thema machen wird.

Wie reagiert die Wirtschaft?

Grundsätzlich fordern viele Wirtschaftsverbände mit Blick auf den Fachkräftemangel mehr Zuwanderung. BDI-Präsident Ulrich Grillo pries kürzlich auch ausdrücklich das kanadische Modell als Vorbild. Es könne mittel- bis langfristig notwendig sein, das bisherige Regelwerk für dauerhafte Zuwanderung nach Deutschland um ein Punktesystem zu ergänzen. DIHK-Präsident Eric Schweitzer sprach sich allerdings gegen ein Einwanderungsgesetz aus. Zuwanderung in Deutschland sei sehr detailliert geregelt, argumentierte er und lehnte auch Aufnahmekontingente für qualifizierte Einwanderer ab.

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