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Politik: Stimmung und Abstimmung

Von Lorenz Maroldt

Der Ruf nach einer Volksabstimmung ertönt stets lauter aus den Reihen der Opposition. Es lässt sich damit die Regierung in Erklärungsnot bringen und die Legitimation ihrer Entscheidung in Zweifel ziehen. So war es damals, Anfang der neunziger Jahre, als die schwarzgelbe Koalition Forderungen aus rot-grünen Kreisen zurückwies, zur Vereinigung und der neuen Verfassung des Landes das Volk zu befragen; so ist es heute, da die schwarz-gelbe Opposition die rot-grüne Regierung mit dem scheinbar so naheliegenden Wunsch nach einer Volksabstimmung über die Verfassung Europas bald täglich quält.

Nur wegen der innenpolitischen Absicht und des damit verbundenen Nutzwertes muss dieser Ruf indes nicht falsch sein. In Frankreich darf das Volk abstimmen, in England, Polen und etlichen anderen Ländern auch. Abwegig ist es also nicht, ein solches Verfahren auch hier zu erwägen, wo nach bisheriger Planung – und der Grundgesetzlage – der vom Volk gewählte Bundestag für die Verfassungsentscheidung zuständig ist. Perfide ist es allerdings, der Regierung Angst vor den Bürgern und Misstrauen gegen das eigene Volk zu unterstellen, wie Westerwelle und Stoiber es taten. Sie verengen so die Diskussion, ob gewollt oder nicht, auf die Frage, ob das Volk die Verfassung ablehnen darf. Was für die Zustimmung spricht, ist dagegen kein großes Thema der liberalen und konservativen Graswurzeldemokraten. Zudem hält sich das unterstellte Interesse der Bürger an europäischen Fragen in Grenzen, wie die Europawahl gerade wieder gezeigt hat, und da ging es noch um Köpfe, nicht nur um schwer les- und verstehbare Paragrafen.

Dabei gibt es gute Gründe für mehr plebiszitäre Elemente auch in einer repräsentativen Demokratie. Verfassungsfragen betreffen die Bürger elementar – täten sie das nicht, wären sie überflüssig. Aber Volksabstimmungen auf willkürlicher Basis mal zu fordern, mal abzulehnen, ist keine überzeugende Politik. Auch zeigt das Durcheinander beim Verfahren, dass die Europäische Union viel weniger einig ist, als es der Verfassungsentwurf suggeriert. Nicht einmal auf einen gemeinsamen Wahltag können sich die Länder verständigen. Lehnt auch nur ein Land ab, und ist es noch so klein, egal ob durchs Volk oder durchs Parlament, ist die gesamte Verfassung perdu – auch etwas undemokratisch, oder? Unter diesen Umständen ist es wenig sinnvoll, Hals über Kopf die nationale Verfassung zu ändern und sich in einen Wettbewerb darum zu stürzen, wer am schnellsten die europäische Verfassung vom eigenen Volk ablehnen lässt.

Der rechtlichen und emotionalen Bedeutung der Verfassung angemessen wäre ein Vorgehen ähnlich dem, das etwa der Grüne Daniel Cohn-Bendit vorschlägt: Eine gemeinsame Volksabstimmung in allen Ländern, was auch, mit einem kleinen Schuss Pathos versehen, identitätsstiftend wirken kann; als angenommen gilt die Verfassung, wenn eine qualifizierte Mehrheit der Länder und zugleich – wegen der unterschiedlichen Größe der Länder – eine Mehrheit aller Bürger dafür stimmt. Länder, die ablehnen, haben nochmal die Wahl – dann aber entscheiden sie zugleich, ob sie in der EU verbleiben. Entweder mit Verfassung dabei – oder gar nicht. Den Deutschen, die ein eher schwieriges Verhältnis zu ihrem Land haben, ist zuzutrauen, dass sie für Europa sind – und für Europas Verfassung.

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