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Tausende Blumensträuße legten die Australier am Dienstag an einer spontan errichteten Gedenkstätte nieder.

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Der Tag nach der Geiselnahme: Sydney trauert

Wieso war ein wegen Gewaltdelikten Angeklagter auf freiem Fuß, obwohl sogar Teheran vor dem in Sydney lebenden Iraner warnte? Einen Tag nach der blutigen Geiselnahme stellen sich viele Fragen. Auch Regierungschef Tony Abbott kritisiert die australischen Behörden.

Sie kamen in Paaren, kleinen Gruppen oder ganz alleine, junge Menschen, alte Menschen, Familien mit kleinen Kindern, Christen, Muslims, Juden und Atheisten. Und sie legten Blumensträuße nieder, tausende von Blumensträußen, die die Trauer einer ganzen Stadt, eines ganzen Landes über den Tod zweier Geiseln bezeugten, die Opfer eines geistig verwirrten Fanatikers geworden waren. Und die Trauer über die politisch motivierte Gewalt, die nun auch auf dem fünften Kontinent angekommen ist. Viele Blumensträuße hatten kleine Karten eingesteckt, die versprachen, die Opfer nie zu vergessen, in ganz Australien wehten Flaggen auf halbmast, in Sydney besonders gut sichtbar auf der höchsten Stelle der berühmten Hafenbrücke, die sich nur wenige Kilometer vom Tatort entfernt über das Wasser schwingt.

Trauer um die beiden Opfer

Noch ist nicht endgültig geklärt, was genau in den 34 Sekunden kurz nach zwei Uhr morgens passierte, gut 16 Stunden nachdem Man Haron Monis alle Gäste und Angestellte des Lindt Chocolate Cafe im Herzen Sydneys als Geiseln genommen hatte. Der 50-jährige, aus dem Iran stammende Flüchtling starb im Kugelhagel der Polizei, vermutlich erschoss er vor seinem Tod den Cafe-Manager Tori Johnson (34) und die Anwältin Katrina Dawson (38).

Auch Regierungschef Tony Abbott und seine Frau Margie gedachten der Opfer.

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Johnson kam nach bisher nicht von der Polizei bestätigten Augenzeugenberichten ums Leben, als er versuchte, dem Täter sein Gewehr zu entreißen.Dawson, Mutter von drei Kindern, soll mit ihrem Körper eine schwangere Geisel beschützt haben. Dawson galt als zukünftiger Star in der Rechtsanwaltsszene, hatte ihr Abitur mit der Höchstnote von 100 von 100 möglichen Punkten abgelegt und arbeitete seit Jahren auch noch als Freiwillige für Ureinwohner in Rechtsfragen.

Wütender Geiselnehmer

Johnson, der seit zwei Jahren Chef des Lindt-Cafes war, soll bereits vor dem Ende versucht haben, die Waffe an sich zu reißen und dafür heftige Schläge des Geiselnehmers eingesteckt haben. Viele Australier waren am Montag Abend in der Hoffnung schlafen gegangen, dass der Geiselnehmer sich möglicherweise von den Polizei-Verhandlern zur Aufgabe überreden lassen könnte. Hinter den Fenstern des abgedunkelten Cafes sah es aber anders aus. Schon am Nachmittag entkamen fünf der 17 Geiseln, die er auf die Toilette gehen ließ, kurz vor dem gewaltsamen Ende flohen mehr als ein halbes Dutzend Geiseln, vermutlich als der Täter mit Johnson rang.

Wie Geiseln berichteten, wurde Man Haron Monis zunehmend wütender, vor allem weil die Medien sich weigerten, seine Botschaften zu veröffentlichen. Er hatte die Geiseln gezwungen, Videobotschaften mit seinen Forderungen zu filmen und zu verschicken, in denen er unter anderem ein öffentliches Telefongespräch mit Premierminister Tony Abbott forderte.
Bereits am Dienstag begannen die Diskussionen, warum Man Haron Monis überhaupt auf Kaution frei war. Er war der Polizei seit Jahren bekannt und zu 300 Stunden Gemeindearbeit verurteilt worden, weil er Hassbriefe an Witwen australischer Soldaten geschickt hatte, die im Irak und Afghanistan gefallen waren. Als dubioser Prediger soll er 50 bis 60 Frauen sexuell belästigt haben. Die schwerwiegendste Anklage hätte ihm aber noch bevor gestanden, weil er an der Ermordung seiner Exfrau beteiligt gewesen sein soll, die erstochen und anschließend angezündet worden war. Abbott kritisierte den früheren Umgang der Behörden mit dem angeklagten und zu Extremismus neigendem Täter. „Wie kann jemand mit so einer Geschichte ... auf freiem Fuß sein?“ fragte Abbott am Dienstag in Sydney.

Warnung aus Teheran

Die Teheraner Polizei hat nach eigenen Angaben Australien mehrmals vor dem ausgewanderten iranischen Geiselnehmer gewarnt. „Dieser Mann war ein Betrüger und hat sich bei seinem Asylantrag in Australien als politischer Dissident ausgegeben“, sagte Irans Polizeichef am Dienstag. Alldies sei der australischen Polizei auch mitgeteilt worden. <NO1>Der Mann habe in Teheran eine Reiseagentur und mehrere Kunden betrogen, so der Polizeichef laut der Nachrichtenagentur ISNA. Um nicht ins Gefängnis zu kommen, sei er 1996 zunächst nach Malaysia geflohen und von dort aus nach Australien.Das iranische Außenministerium hatte den Geiselnehmer als geistesgestört bezeichnet

Die AfD entdeckt das Thema für sich

Monis' wirres Gebaren gibt den Australiern zumindest die vage Hoffnung, dass es sich bei ihm um keinen „richtigen“ Terroristen gehandelt hat. Abbott bezeichnete die dramatischen Ereignisse als eine „Berührung“ mit Terrorismus. Ohnehin fiel auf, dass Politiker aller Parteien das Wort Terrorismus kaum gebrauchten. Abbott legte mit seiner Frau Margie genauso Blumen nieder wie Oppositionsführer Bill Shorten sowie Generalgouverneur Peter Cosgrove, der Vertreter des nominellen Staatsoberhauptes Königin Elizabeth II.. Die Vertreter des Staates waren aber nur trauernde Australier wie tausende andere auch.

In Deutschland fühlt sich die Alternative für Deutschland (AfD) durch die Geiselnahme von Sydney in ihrer Forderung nach weiteren Einwanderungsbeschränkungen bestätigt. Gleichzeitig führt sie die Tat des aus dem Iran stammenden Einzeltäters als Rechtfertigung für die umstrittenen Demonstrationen der Pegida in Dresden an. Der stellvertretende SPD-Vorsitzende Ralf Stegner bezeichnete die AfD-Aussagen als "unglaubliche Entgleisung".

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