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Soldaten tragen Schutzanzüge während der Ermittlungen zur Vergiftung des Ex-Doppelagent Skripal.

© dpa/Andrew Matthews

Tödliches Nervengift: BND beschaffte Nowitschok aus russischem Labor

Es ist das Gift, mit dem der Ex-Doppelagent Skripal vergiftet wurde: Deutschlands Erkenntnisse über den Stoff gehen offenbar auf eine Geheimoperation in den 90ern zurück.

Die Erkenntnisse über die einst in der Sowjetunion entwickelte Klasse von Kampfstoffen namens Nowitschok geht maßgeblich auf eine bis heute geheim gehaltene Operation des Bundesnachrichtendienstes (BND) zurück. Nach gemeinsamen Recherchen der ZEIT mit dem Rechercheverbund von „Süddeutscher Zeitung“, NDR und WDR beschaffte ein Informant des Dienstes in den Neunzigerjahren eine Probe des Stoffs. Auch die Bundeswehr war in den Vorgang involviert. 

Damals an der Entscheidung beteiligte Personen bestätigen den Vorgang. Die Bundesregierung und der BND erklärten auf Anfrage, zu "nachrichtendienstlichen Angelegenheiten grundsätzlich nur den geheim tagenden Gremien des Deutschen Bundestages" Auskunft zu geben. Nowitschok gilt als eine der tödlichsten je entwickelten C-Waffen, ihr Einsatz gegen den russischen Überläufer Sergej Skripal und seine Tochter im März dieses Jahres in Salisbury führte zu einer diplomatischen Krise zwischen der Regierung in Moskau und dem Westen.

Sicherheitskreise sagten dem Tagesspiegel, es sei „durchaus plausibel“ dass der BND an Nowitschok herangekommen sei. Der BND habe sich in der Vergangenheit auch andere Stoffe beschaffen können, „es wäre auch schlimm, wenn das nicht geklappt hätte“. Trotzdem sei davon auszugehen, dass das Attentat auf den ehemaligen russischen Geheimdienstoberst von russischer Seite verübt wurde. Das müsse nicht zwangsläufig bedeuten, dass Putin oder ein russischer Geheimdienst hinter dem Anschlag stecke. Es gebe dafür bislang keinen Beweis. Denkbar sei auch, dass Personen der organisierten Kriminalität in Russland oder ehemalige Geheimdienstler Skripal vergiftet hätten.

Die damalige Operation zur Beschaffung einer Probe, die nach Angaben von Beteiligten in der ersten Hälfte der Neunzigerjahre begann, war innerhalb der Bundesregierung umstritten. Der BND führte bereits seit einiger Zeit einen russischen Wissenschaftler als Quelle, der angeboten hatte, das bis dahin sorgsam gehütete militärische Geheimnis einer neuen Klasse von chemischen Kampfstoffen gegen die Zusicherung eines sicheren Aufenthaltsstatus für sich und seine Familie zu verraten. Der spätere Überläufer bot sogar an, eine Probe nach Deutschland zu bringen.

All dies führte zu komplizierten politischen und juristischen Diskussionen innerhalb der Bundesregierung. 1990 waren auf Druck von Bundeskanzler Helmut Kohl die in Westdeutschland gelagerten amerikanischen Chemiewaffen abtransportiert worden, die Vereinbarungen über eine weltweite Ächtung der Kampfgase waren weit vorangeschritten. Zudem hatte sich Deutschland bereits 1954 in den sogenannten Pariser Verträgen verpflichtet, keine Massenvernichtungswaffen herzustellen. "Wir wollten auf keinen Fall den Eindruck erwecken, als würden wir uns selbst für solche Chemiewaffen interessieren", sagt eine mit den damaligen Diskussionen vertraute Person.

Mit Wissen von Kanzleramt und Bundesverteidigungsministerium wurde die Probe deshalb in einem Labor in Schweden analysiert, nur die Formel wurde an den BND und das Vereidigungsministerium übermittelt. Was aus der Probe wurde, ist unklar, die schwedische Regierung erklärte auf Anfrage, sie könne den Vorgang in der Kürze der Zeit nicht aufklären.

Auf Weisung von Kohl unterrichtete der BND einige seiner engsten Partner, darunter amerikanische und britische Geheimdienste. Später wurde eine Arbeitsgruppe aus fünf westlichen Geheimdiensten und dem BND eingesetzt, die alle Erkenntnisse zu Nowitschok zusammentrug.

Die Bundesregierung bemüht sich, den Vorgang zu rekonstruieren

In einigen Nato-Ländern soll es auch zu der Produktion von winzigen Mengen des Giftes gekommen sein, um eigene Schutzausrüstung, Messgeräte und mögliche Gegenmittel zu testen. Um das gute Verhältnis zum damaligen russischen Präsidenten Boris Jelzin nicht zu belasten, entschied sich die Bundesregierung allerdings, die Existenz von Nowitschok nicht öffentlich zu machen.

Der letzte sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow hatte schon 1987 versichert, dass die Produktion von C-Waffen eingestellt werde. In der Bundesregierung war man aber unsicher, ob der militärische Apparat ohne Wissen der politischen Führung nicht doch weiter an der Entwicklung von Massenvernichtungswaffen arbeitete. Im Auftrag Kohls sprach ein Emissär den Vorgang dann bei einem Treffen in Moskau an und erklärte, man wisse von den heimlich fortgesetzten Kampfstoffentwicklungen.

Der Überläufer kam später auf Umwegen nach Deutschland und lebte zumindest zeitweilig unter dem Schutz der Bundeswehr. In der heutigen Bundesregierung laufen inzwischen Bemühungen, den damals unter höchster Geheimhaltung gelaufenen Vorgang zu rekonstruieren.

Teile des Textes erschienen zuerst auf Zeit Online /fan

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