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Politik: Tolerant heißt nicht naiv Von Moritz Schuller

Was ist eigentlich ein 26jähriger Marokkaner aus Rotterdam? Ein Mann mit zwei Pässen?

Was ist eigentlich ein 26jähriger Marokkaner aus Rotterdam? Ein Mann mit zwei Pässen? Die fleischgewordene Versöhnung von Orient und Okzident? Ein islamistischer Schläfer? Der Mörder des niederländischen Filmregisseurs Theo van Gogh ist ein 26-jähriger Marokkaner aus Rotterdam; er hat sein Land, das lange als Vorbild für eine offene, tolerante Gesellschaft diente, in den Krieg gestürzt. Davon sprach jedenfalls der niederländische Vizepremier Gerrit Zalm, ehe er das Wort wieder zurücknahm.

Für den Zustand, in dem sich unser Nachbarland befindet, wird also noch nach der richtigen Vokabel gesucht. Die Taten überlagern im Moment ohnehin die Worte: Auf den Mord im Multikultiland folgten Brandanschläge auf Moscheen und Molotowcocktails gegen Kirchen und ein Antiterroreinsatz in Den Haag. Wer nicht von einem Bürgerkrieg reden möchte, sollte zumindest konstatieren: Die multikulturelle Gesellschaft kämpft in den Niederlanden, wie vorher schon in den Vorzeigeländern Schweden und Dänemark, um ihre Existenz.

Die Kampfzone weitet sich also aus. Salman Rushdie wurde der Tod nur angedroht, im Nachhinein eine fast aufgeklärte Umgangsform. Auch Michel Houellebecq, der den Islam als „die dümmste Religion der Welt“ bezeichnet hat, ist noch am Leben. Theo van Gogh wurde gleich abgemetzelt. Als Samuel Huntington vor zehn Jahren vom „Kampf der Zivilisationen“ schrieb, war die Empörung in Europa noch groß. Inzwischen hat dieser Kampf mindestens schon die Niederlande erreicht.

Im Rückblick meint der Nato-Generalsekretär und ehemalige niederländische Minister Jaap de Hoop Scheffer: „Wir waren zu liberal.“ Das Umdenken setzte bereits nach der Ermordung des fremdenfeindlichen Politikers Pim Fortuyn ein. Die restriktivere Einwanderungspolitik führte dazu, dass die Niederlande in diesem Jahr zum ersten Mal mehr Auswanderer als Einwanderer verzeichnen.

Die Hoffnung, religiöse Radikalität würde sich in einer aufgeklärten Demokratie nach und nach abschleifen, hat sich als falsch erwiesen. Die klammheimliche Erwartung, dass sich kulturelle Minderheiten an eine – nie offen formulierte – liberale Leitkultur anpassen, wird durch den Fall Mohammed B. enttäuscht. Im Gegenteil, der 26-jährige Marokkaner aus Rotterdam wurde stattdessen Teil einer terroristischen Parallelgesellschaft. Dass er nach allen gängigen Kriterien als integriert galt, macht zweierlei deutlich: wie gering die Anforderungen an Integration offenbar waren und wie naiv die Vorstellung, Multikulturalität sei vor allem eine Frage von zwei Pässen.

Selbst wenn die westliche Kultur nicht mehr bedeutet als das Recht, einen muslimischen Geistlichen als „Zuhälter des Propheten“ zu bezeichnen, wie es Theo van Gogh getan hat, lohnt es sich, den Kampf der Kulturen aufzunehmen. Und der ist offensichtlich nicht allein durch Sprachkurse für marokkanische Einwanderer zu gewinnen.

Die eskalierende Gewalt in den Niederlanden beschreibt also die durchaus paradoxe Herausforderung, der sich jede moderne liberale Gesellschaft zu stellen hat: Sie muss, um sich ihre eigene Freiheit zu erhalten, radikaler formulieren, welche Spielregeln für sie gelten. Sie muss über Identität reden und definieren, was ein 26-jähriger Marokkaner aus Rotterdam (oder auch ein 26-jähriger Türke aus Berlin) in seinem Heimatland sein kann und sein muss. Sonst definiert er es selbst.

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