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Tunesien-Tagebuch (5): "Wir bleiben wachsam"

Eine 24-jährige Lehrerin aus Sousse über die Übergangsregierung.

Das soll eine neue Regierung sein? Diese Übergangsregierung besteht zu einem großen Teil aus dem alten Regime, sogar Leuten, die Schlüsselpositionen hatten: der Premierminister, der Innenminister, der Verteidigungsminister, der Finanzminister. Mir ist überhaupt nicht wohl mit ihnen. Allein, wie der Innenminister am Montagabend in einer Pressekonferenz gesprochen hat. Er wandte sich an das Volk und es wirkte, als ob er uns anklagt: „Gefällt es euch, in welchem Zustand das Land jetzt ist? Die Kinder gehen nicht zur Schule, unsere Erde ist verbrannt. Und wozu, wozu?“ So hat er geredet. Aber wer in Gottes Namen hat denn das getan? Natürlich hat er nicht davon gesprochen, dass das Regime selbst Milizen geschickt hat, die geplündert und randaliert haben. Die Armee hat uns gewarnt, nicht einmal der Sicherheitspolizei abends die Tür zu öffnen, weil sie mit den Milizen unter einer Decke stecken können.

Und dann hat Premierminister Ghannouchi auch noch einen Anruf von unserem ehemaligen Diktator Ben Ali erhalten! Er möchte wissen, wie es uns geht. Ich kann das wirklich alles nicht glauben.

Wir brauchen eine neue Verfassung, damit sich die Opposition auf demokratische Weise beteiligen kann, aber das braucht Zeit. Hoffentlich wird die neue Verfassung die Bedürfnisse der jungen Menschen beachten.

Es wurden jetzt Gedichte geschrieben, um den jungen Märtyrern dieser Revolution Ehre zu erweisen. Überhaupt, es gibt alles in Bezug auf die Revolution: patriotische Lieder, Rapsongs, Witze gegen das Regime, sogar neue Wortschöpfungen. „Stehlen“ heißt jetzt „trabelsieren“, wie der Name „Trabelsi“ der Frau unseres Ex-Diktators. „Flüchten“ heißt „benalieren“, nach Ben Ali.

Wir haben mit einer Stimme gesprochen, als wir schrien: „Hau ab, Ben Ali“. Aber jetzt sind wir gespalten. Die einen wollen wieder Ruhe und Frieden, die anderen wollen weiterdemonstrieren, bis die gesamte Regierungspartei abhaut. Und die Oppositionsparteien wollen endlich an die Regierung. Einige von ihnen haben sich jetzt aus Protest wieder zurückgezogen. Das beunruhigt mich sehr! Ich bin mir sicher, dass das gesamte Volk die Regierungspartei loswerden will. Bestimmt werden noch viele demonstrieren. Gleichzeitig kehrt jetzt das normale Leben zurück und die Leute arbeiten. Ich glaube, wir haben keine Wahl. Wir brauchen Stabilität und müssen das Land wieder aufbauen. Es soll kein Blut mehr fließen. Wir akzeptieren die Übergangsregierung, aber wir bleiben wachsam und werden sie immer an die Ziele unserer Revolution erinnern.

Unser Aufstand war nicht vorbereitet. Die Opposition ist nicht bereit. Immerhin, wir jungen Tunesier sind uns sehr bewusst über alles, was passiert. Ich hoffe sehr, wir werden uns auch weise genug verhalten, um noch an unser Ziel zu gelangen.

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