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© Andrei Mosienko

Ukraine: Das blaue Wunder von Kiew

Vor fünf Jahren begann die Orangene Revolution, die Bürger der Ukraine wollten Demokratie – und bekamen vor allem Probleme: politische, wirtschaftliche, gesundheitliche. In wenigen Wochen wird wieder gewählt. Der Favorit trägt eine andere Farbe. Er ist der Gegner von damals.

Als die Glocken zu läuten beginnen, fährt der Tross vor, angeführt von einem bulligen Chevrolet Explorer Van mit getönten Scheiben. Dessen Schiebetür wird von innen schwungvoll aufgerissen, und heraus steigt Viktor Janukowitsch, die schwarze Jacke bis oben zugeknöpft, obwohl es noch warm ist für Mitte November. Eilig springen seine Personenschützer aus den Begleit-Vans.

Es ist elf Uhr am Vormittag, und vor der Kathedrale des heiligen Nikolai stehen Männer mit blauen Schals und neben ihnen orthodoxe Priester mit lilafarbenen Hüten. Janukowitsch wird zu Erzbischof Jefrem geleitet, dann schüttelt er die Hände der Blauen, sie sind die lokale Elite seiner „Partei der Regionen“, ihre Schals bezeugen Zugehörigkeit: Blau, das ist die Farbe der Partei, und blaue Schals, Jacken, Fahnen und Pavillons wird man an diesem Tag überall sehen, wo Janukowitsch in Dniprodserschinsk auftritt, einer Stadt im Südosten der Ukraine, Schwerindustrie, 270 000 Einwohner.

Hier war er auch damals stark, vor fünf Jahren, als die Orangene Revolution – wochenlange Demonstrationen von Zigtausenden auf dem zentralen Platz in der Hauptstadt Kiew – verhindert hat, dass er als Moskaus Wunschkandidat nach manipuliertem Wahlergebnis Präsident der Ukraine wurde. Stattdessen kam nach einer Neuwahl der demokratie- und europaorientierte Herausforderer an die Macht, Viktor Juschtschenko. Bis heute ist er im Amt, seine Mitstreiterin von damals, Julia Timoschenko, ist Premierministerin, aber viele Gemeinsamkeiten haben die beiden nicht mehr. Im Gegenteil.

Am 17. Januar wird wieder ein neuer Präsident gewählt. Juschtschenko will es bleiben, Timoschenko und Janukowitsch wollen es werden, und Letzterer hat den Umfragen zufolge die größten Chancen.

Die ukrainische Bevölkerung ist der Revolutionäre von einst müde. Weil Präsident, Regierung und Parlament gegeneinander arbeiten, schleppt sich das Land von politischer Krise zu politischer Krise, dazu kommt die Wirtschaftsflaute, das Realeinkommen der Ukrainer ist um 35 Prozent gesunken, ein EU-Beitritt in weite Ferne gerückt. Juschtschenko konnte kaum eins seiner Versprechen erfüllen, in Kiew witzeln sie schon, das neue „Holodomor“-Denkmal für die Millionen Opfer der Hungersnot in den 30er Jahren sei sein einziges Vermächtnis, und so wollen viele einstige Anhänger der Orangenen Revolution diesmal Janukowitsch wählen, den einstigen Feind.

In der mit goldgerahmten Ikonen geschmückten Backsteinkathedrale stimmt ein Chor orthodoxe Gesänge an. Janukowitsch, 59, beginnt alle seine Wahlkampftage mit einem Gottesdienst. An seinem rechten Handgelenk trägt er ein schwarzes, geflochtenes Bändchen, das ihm im Sommer auf dem Berg Athos übergeben wurde, einem Wallfahrtsort orthodoxer Christen in Griechenland. „Das mit dem Glauben meint er sehr ernst“, flüstert ein Berater, dann spricht Erzbischof Jefrem: „Gesegnet sei der, der für das Wohl des Volkes arbeitet. Von Ihren Taten wissen wir, wie sehr Sie das Land lieben.“ Janukowitsch erwidert, „der Glaube an Jesus Christus hilft uns, die Ukraine wiederaufzubauen“, dann ein Hieb gegen seine orangenen Gegner: Die größte Pein für das Land sei nicht die grassierende Schweinegrippe, „die schlimmste Epidemie ist die jetzige Regierung“. Janukowitsch zündet eine Kerze an, die Priester zücken ihre Handys und machen Fotos davon, dann muss er los. „Und weg ist er“, sagt eine kleine alte Frau mit grauen Haaren und lächelt etwas enttäuscht.

Sie ist gekommen, um Janukowitsch alles Gute zu wünschen, hat schon bei der vorigen Wahl für ihn agitiert. Aber es sei schwieriger geworden, die Menschen zur Wahl zu bewegen, sagt sie: „Das letzte Mal haben wir Janukowitsch gewählt und trotzdem Juschtschenko bekommen!“ Am schwierigsten sei es mit der Jugend: „Die hört noch auf die Märchen von Julia Timoschenko.“ Sie zischt: „Dieses Luder!“

Dieser Ton kommt nicht von ungefähr, er wird von den Kandidaten vorgegeben, die einen schmutzigen Wahlkampf führen. Ende Oktober wurde bekannt gemacht, dass Abgeordnete der Timoschenko-Partei in einen Pädophilie-Skandal verwickelt waren. Kurz darauf tauchten Berichte über ein mögliches neues Verfahren gegen Janukowitsch auf, der als junger Mann an einer Vergewaltigung beteiligt gewesen sein soll. Noch-Präsident Juschtschenko wiederum rief die Wähler dazu auf, keine Pädophilen mehr ins Parlament zu wählen, und Mitte November bezeichnete er schließlich seine ehemalige Mitstreiterin, also die Premierministerin des Landes, öffentlich als „Pennerin“.

Auch Janukowitschs Wahlkämpfer haben sich auf Julia Timoschenko eingeschossen, die 49-Jährige mit dem geflochtenen Haarkranz, die in Umfragen nur einige Prozentpunkte hinter dem Favoriten liegt. Timoschenko hat das Land mit Wahlwerbung zugepflastert, und als Regierungschefin blickt sie täglich auf allen Kanälen in die Wohnzimmer der Nation, präsentiert sich als Retterin vor der Schweinegrippe, erhöhte unlängst Briefträgern, Lehrern und Dorfbürgermeistern das Einkommen.

Wie 2004 orakeln Politologen über „richtungsweisende Wahlen“, aber diesmal ist alles anders. 2004 drohte das Land an den Wahlen zu zerbrechen, in zwei Hälften zu zerfallen: Die Zentralukraine und der Westen wählten Orange, der russischsprachige Südosten Blau. Juschtschenko stand gegen Janukowitsch, Demokratie gegen Despotie, Westler gegen Russenfreunde. Fünf Jahre später ist dieser Konflikt in den Hintergrund getreten. Zwar wird auch diesmal der Osten mehrheitlich Janukowitsch, der Westen eher Timoschenko wählen, aber die prozentualen Unterschiede sind längst nicht mehr so deutlich. Auch die Programme der Kandidaten liegen nicht mehr weit auseinander: Beide sind für einen EU-Beitritt und gleichzeitig für gute Beziehungen zum Nachbarn Russland. Allein zum Nato-Beitritt sagt Janukowitsch deutlich Nein, während Timoschenko das Thema umschifft. Und im Zentrum der Wahlkampfreden beider steht das Gelöbnis, das fünf Jahre dauernde Chaos zu beenden. Timoschenko bedient sich dafür sogar des Putin-Diktums von der „Diktatur des Gesetzes“.

Um Gesetz und Ordnung geht es an diesem Novembertag auch bei Janukowitsch, der bei seinem nächsten Termin angekommen ist. Einer ärmlichen Holzbaracke 25 Kilometer südwestlich von Dniprodserschinsk. Der hünenhafte Kandidat geht eine knarzende Holztreppe hinauf und trifft oben angekommen auf ein altes Rentnerehepaar. Die beiden sitzen am Wohnzimmertisch, sie in einer blauen Schürze, er in einer Turnhose. Die Durchschnittsrente in der Ukraine liegt bei knapp 900 Hriwna, das sind 75 Euro. Im Flur blättert der Putz, dafür hängt an jeder Wand ein Janukowitsch-Plakat. Der Abgebildete setzt sich an den Tisch, vor ihm Kekse und Tee. „Noch ist es ja nicht kalt draußen“, sagt die Rentnerin besorgt, „aber wer weiß, was passiert, wenn die Heizungen kalt bleiben?“ Janukowitsch nickt. Sein Wahlkampfmotto lautet: „Ich höre jedem zu“, und das will er hier beweisen.

„Ich weiß, was seit fünf Jahren im Land los ist“, sagt er. Dass er 2006 selbst noch mal kurzzeitig Premierminister war, erwähnt er nicht. Er spricht von der Wettbewerbsfähigkeit der Industrie, die davon abhänge, wie viel Mittel der Staat für Innovationen aufwende: „Wir brauchen hochwertiges Eisen in ausreichenden Mengen“, sagt er. Metall und Kohle, das ist die Welt, in der sich der ehemalige Generaldirektor eines sowjetischen Kohlekombinats im Donbass auskennt. Das Rentnerpaar lauscht den Ausführungen. „Wenn die Wirtschaft ordentlich funktioniert, können wir alle Probleme lösen“, sagt Janukowitsch. Dann überreicht er den beiden Alten einen Gutschein für ein Elektroheizgerät, damit sie nicht frieren müssen bis zu den Wahlen. „Wir hoffen, dass Sie gewinnen“, sagen die beiden zum Abschied.

Janukowitschs Kolonne braust davon, auf dem Küchentisch bleibt sein Wahlprogramm liegen, darin 14 Versprechen, eins lautet: höhere Renten.

Der Präsidentschaftskandidat zu Gast bei den Erniedrigten und Beleidigten – das sind die Bilder, die Janukowitsch haben will. Sein eigenes Kamerateam filmt, am nächsten Tag wird der fertige Beitrag an die Fernsehsender des Landes verschickt, die Wahlkampftour der Blauen ähnelt einem perfekt geplanten Staatsbesuch.

Es ist dunkel geworden, als Janukowitschs Kolonne in der Millionenstadt Dnipropetrowsk eintrifft. Hier kommt Timoschenko her, hier muss Janukowitsch sie schlagen, es ist schon sein dritter Besuch seit dem Sommer. Seine Wahlkämpfer wollen um jeden Preis eine Stichwahl verhindern. „Wir brauchen einen klaren Sieg in der ersten Runde. Damit Timoschenko erst gar nicht auf die Idee kommt, die Ergebnisse anzufechten“, sagt Janukowitschs Pressesprecher. Auch wenn niemand mit einer erneuten Orangenen Revolution rechnet, so fürchten sie doch eine Wiederholung der Ereignisse von 2004: ein knapper Wahlausgang, Stichwahlen, Straßenproteste.

Am Abend fragt die Moderatorin eines regionalen Fernsehsenders: „Kann sich die Situation von 2004 wiederholen?“ Janukowitsch antwortet: „Ja, alles ist möglich.“ Dann überlegt er kurz. „Aber wir haben die Macht des Volkes. Wir lassen uns den Sieg nicht nehmen. Sie haben keine Chance.“

Moritz Gathmann[Kiew, Dniprodserschinsk]

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