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Sie könnten sich ihrer Fremdenfeindlichkeit auch schämen. Tun sie aber nicht. Pegida-Anhänger in Dresden.

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Umgangsformen und Schamgrenzen: Ohne Verbote keine Kulturleistungen

Umgangsformen verlieren allgemein an Bedeutung. Aber wenn die Schamgrenzen so niedrig sind, dass sich dahinter nichts mehr aufstaut, wird man keine Kulturleistungen mehr erwarten können. Ein Essay.

Nichts ist charakteristischer für unsere heutige Kultur als die Tendenz, jeden Formzwang zu sprengen und die eigene Persönlichkeit ungehemmt zu entfalten. Wo dies in extremer Form geschieht, nennt man es „die Sau rauslassen“. Den Drang, gegen Regeln zu verstoßen, hat es immer gegeben. Normen bedeuten Zwang, und Zwang wird allgemein als lästig empfunden.

Da der Mensch ein soziales Wesen ist, braucht er Umgangsformen, die sein Verhältnis zu den Mitmenschen regeln, doch ebenso sehr braucht er Ventile, die ihn von solchem Formzwang entlasten. Das vermutlich älteste Ventil ist das Lachen. Es ist so alt, dass es im Zuge der Evolution in den genetischen Code des homo sapiens eingegangen ist, denn nur der Mensch kann lachen, während seine nächsten Verwandten es nur zu einer leichten Bewegung der Gesichtsmuskulatur bringen, die als Entspannungssignal gedeutet werden kann.

Kant definierte das Lachen als „die plötzliche Auflösung einer gespannten Erwartung in Nichts“. Wenn Lachen eine psychische Spannung auflöst, wird es vor allem dort benötigt, wo Menschen auf so engem Raum zusammenleben, dass tagtäglich zwischenmenschliche Spannungen auftreten.

Das ist in besonderem Maße in Städten der Fall. Deshalb ist es kein Wunder, dass mit dem Aufstieg der Städte im Spätmittelalter das Aufblühen einer ausgeprägten Lachkultur einherging, der eine Normierung der Umgangsformen entgegenwirkte. Die Normierung diente von Anfang an dem Aufrechterhalten der Machthierarchie, denn der Höherrangige erwartete vom Niederrangigen zuallererst Respekt. Der aber verträgt sich schlecht mit dem Lachen, das selbst in seiner freundlichsten Form den Abstand zur Respektsperson einebnet.

Auflösung des Formzwangs in fast allen Gesellschaftsbereichen

Macht ist die Urspannung aller zwischenmenschlichen Beziehungen. Darum ist gerade hier das Lachen so wichtig, weil es gegen die Macht aufmuckt. Das bedeutet aber auch, dass die Mächtigen nicht gern an- oder gar ausgelacht werden. In streng vertikalen Gesellschaften hatten nur die an der Spitze und die ganz unten das Recht, ungeniert zu lachen.

Der Fürst, der in seiner Stellung ungefährdet war, durfte über seinen Hofnarren lachen, ohne fürchten zu müssen, dadurch sein Gesicht zu verlieren; und das gemeine Volk hatte kein Gesicht, das es verlieren konnte. Alle sozialen Ränge dazwischen unterlagen einer strengen Lachkontrolle bis hin zum Lachverbot. Insofern ist die Quantität des Gelächters in einer Gesellschaft ein Maß für die darin herrschende Freiheit.

Selbst heute noch gibt es für das Lachen Grenzen des Schicklichen. In früheren Zeiten gab es zeitlich befristete Öffnungen eines Entlastungsventils. Das bekannteste ist der Karneval. Heute erstreckt sich das karnevalistische Treiben über das ganze Jahr. Der Karneval selbst ist nur ein besonderer Gipfel, zu dem sich andere karnevalistische Großereignisse wie die Love Parade und das Münchener Oktoberfest gesellen, die aber nur besonders markante Inseln in einer allgemeinen Lachkultur sind.

Die letzten Hemmungen bei der Abschüttelung des gesellschaftlichen Formzwangs beseitigen die sozialen Netzwerke im Internet, die jedem Einzelnen die Möglichkeit bieten, geschützt durch Anonymität seinem Spott und seiner Häme freien Lauf zu lassen.

Siezen oder duzen? Das waren mal wichtige Fragen

Die Auflösung des Formzwangs lässt sich seit Kriegsende in fast allen Gesellschaftsbereichen beobachten. Ein besonders auffälliges Beispiel ist die weitgehende Verdrängung der klassischen Gesellschaftstänze durch den freien Tanz, für den man keine Tanzschule braucht. Ein spezifisch deutsches Beispiel ist die Selbstverständlichkeit, mit der sich heute junge Menschen duzen, während es bis in die Mitte der 1960er Jahre für Studierende noch normal war, sich erst einmal zu siezen.

Dann folgte eine Zeit, in der diejenigen, die auf der Woge der 68er-Bewegung ritten, sogar ihre Professoren duzten. Am sichtbarsten zeigt sich diese Entwicklung in der Kleidung. Blue Jeans und Sneakers, die anfangs nur von Jugendlichen getragen wurden, sieht man heute auch bei 80-Jährigen. Dabei gibt es kaum noch Regeln für das, was zusammenpasst.

Die tiefgreifendste Auflösung traditioneller Normen war das, was unter dem Banner der sexuellen Befreiung geschah. Während noch in den 1960er Jahren Eltern wegen Kuppelei bestraft werden konnten, wenn sie ihr unverheiratetes volljähriges Kind, Sohn oder Tochter, mit einem Sexualpartner in ihrer Wohnung zusammen schlafen ließen, sind heute nicht eheliche Partnerschaften den ehelichen nahezu gleichgestellt.

Noch krasser ist der Wandel, der zur Legalisierung der Homosexualität führte. Menschen, die einst dafür mit Gefängnis bestraft wurden, dürfen jetzt ihren gleichgeschlechtlichen Partner oder ihre Partnerin heiraten. Hier hat sich die Aufhebung der sozialen Zwänge höchst segensreich ausgewirkt.

Nicht Nacktheit, sondern ein Kleid, das nicht einengt, ist das Ziel

In anderer Hinsicht ist das Bild nicht ganz so eindeutig positiv. Am krassesten zeigen sich die Schattenseiten in den sozialen Netzwerken. Die zunehmende Verwahrlosung der sprachlichen Kommunikation mag man noch dem rasanten Tempo zuschreiben, mit dem heute gemailt und getwittert wird. Bedenklicher ist die Hemmungslosigkeit, mit der sich Menschen vor einem anonymen Publikum im Internet entblößen.

Die extrem niedrige Schamschranke, die darin zum Ausdruck kommt, lässt sich nicht nur dort, sondern in der ganzen heutigen Kultur beobachten. Dass Sexualität als ganz normaler Teil des menschlichen Lebens gezeigt werden darf, ist zweifellos ein Fortschritt, doch wenn heute ein Fernsehkrimi damit beginnt, dass man den Kommissar erst einmal beim Geschlechtsakt sieht, bevor er den Polizeiruf entgegennimmt, dann ist sonnenklar, dass hier nur auf die Lüsternheit des Zuschauers spekuliert wird. Als solcher fühlt man sich auf peinliche Weise zum Voyeur gemacht, während man sich umgekehrt für die exhibitionistischen Selbstentblößungen im Internet fremdschämt.

Die sexuelle Scham war in der Geschichte der Menschheit von Anfang an der Damm, hinter dem sich die psychische Energie aufstaute, der wir unsere ganze Kultur verdanken. Seit Sigmund Freud nennt man das Sublimation. Diese Energie wurde im Laufe der Menschheitsentwicklung durch verinnerlichte Normensysteme kanalisiert, die wir im ästhetischen Bereich als Geschmack, im moralischen als Gewissen und im sozialen als Anstand bezeichnen.

Manche dieser Normierungen sind auch in die Rechtsordnung eingegangen. In Deutschland ist beispielsweise die Beleidigung ein Straftatbestand. In England ist sie das nicht. Dort wurde sie bisher nur durch einen Code der Höflichkeit reguliert.

In Amerika klaffen die verinnerlichten Normen und die rechtlichen Hemmungen besonders weit auseinander. Hier nimmt man einerseits Anstoß an einem Kleinkind, das nackt am Strand spielt, während es andererseits eine legal erlaubte Schamlosigkeit gibt, wie sie in satirischer Überzeichnung in dem Film „The Wolf of Wall Street“ zu sehen ist. Wenn der Damm der Scham so niedrig wird, dass sich nichts mehr dahinter aufstaut, wird man kaum noch Kulturleistungen erwarten können, die den Vergleich mit früheren Epochen aushalten. In der Kunst mag man die Trivialisierung als bloß geschmacklos empfinden, doch in der Politik wie im alltäglichen Leben kann sie sich verheerend auswirken, denn die Scham staut nicht nur die natürliche Libido auf, die der Hauptantrieb des Kunstschaffens ist, sie hält auch die ebenso natürliche Aggression in Schach.

Das Schwinden der Scham muss nicht immer bestialische Folgen haben

Dort wo die Schranke fällt, finden sich immer Menschen, die darin eine Gelegenheit sehen, „die Sau rauszulassen“. Wenn dann noch jemand kommt, der die entfesselte Aggression mit einem höheren, womöglich gar religiösen Zweck legitimiert, gibt es kein Halten mehr. Die Mordlust des sogenannten Islamischen Staats im Namen Allahs ist nicht das erste Beispiel dafür. Mit perverser Lust mordeten auch gebildete Deutsche, als sie die Judenvernichtung zu einem Dienst an der Menschheit erklärten. Die irrationale Utopie einer Rasse von starken „blonden Herrenmenschen“ spülte den Damm der Scham hinweg und bot Menschen, die sonst nie zu morden gewagt hätten, Gelegenheit zu völlig amoralischem Verhalten.

Das Schwinden der Scham muss nicht immer gleich solch bestialische Folgen haben. Die Millionen von Amerikanern, die trotz der kaum zu übersehenden Charaktermängel an Donald Trump festhielten und ihn zum US-amerikanischen Präsidenten wählten, werden sicher nicht für irgendeine Form von Mord und Unterdrückung von Minderheiten zu gewinnen sein. Doch offensichtlich schämen sie sich nicht, für einen solchen Präsidenten öffentlich einzutreten.

Auch die deutschen Pegida-Anhänger schämen sich ihrer Fremdenfeindlichkeit nicht. Dabei müssten gerade die Ostdeutschen wissen, was es heißt, vor einem Zaun aus Stacheldraht zu stehen. Für sie ging es damals nur um die Segnungen der Freiheit und des westlichen Wohlstands, während die Kriegsflüchtlinge an Leib und Leben bedroht sind.

Wir sollten uns daran erinnern, dass auch wir Deutschen in einem Land leben, aus dem unsere Vorfahren die früheren Bewohner verdrängt haben. Wer selber die Früchte solcher „Umvolkung“ genießt, sollte dieses Unwort nicht als Waffe gegen andere einsetzen. Das irrationale Beharren auf „völkischer“ Zugehörigkeit ist genauso vernunftlos wie die Ablehnung von Fremden aus religiösen Gründen.

Nicht nur die Vernunft, sondern der durch Erziehung erworbene gewöhnliche Anstand sollte uns sagen, dass man Menschen in Not helfen muss, selbstverständlich in den Grenzen des Möglichen und Zumutbaren. Diese Grenzen zu bestimmen, ist Sache des Verstandes und nicht des irrationalen Gefühls. Doch da in einer immer komplexer werdenden Welt der durchschnittliche Verstand selten ausreicht, die Notwendigkeit bestimmter Grenzsetzungen einzusehen, ist es umso nötiger, dass die über Jahrhunderte hinweg tradierten und verinnerlichten Normen des Anstands wirksam bleiben.

Die Freiheit ist kein Selbstzweck

Dass jede Zunahme an Freiheit eine entsprechende Zunahme der Möglichkeiten ihres Missbrauchs mit sich bringt, ist eine bedauerliche Tatsache. Die Früchte der Freiheit sind süß und neigen deshalb dazu, besonders schnell zu faulen. Darum ist es umso wichtiger, dass vor allem die Dämme, die anthropologisch am tiefsten verinnerlicht sind, nicht weggespült werden. Dazu gehört in erster Linie die Schamschranke. Wenn „die Sau rauszulassen“ positiv als Akt der Emanzipation angesehen wird, ist die Flut nicht mehr zu stoppen. Kultur ist nicht formlose Nacktheit, sondern ein Kleid, das im Idealfall so gut sitzt, dass man den Widerstand nicht mehr spürt.

Über Freiheit wird bei uns so geredet, als sei sie ständig bedroht. Dabei ist doch klar zu sehen, dass wir, zumindest in der freien Welt, in vielen Bereichen mehr Freiheit haben, als wir tatsächlich brauchen. Würde es beispielsweise unsere Lebensqualität mindern, wenn das Gewicht von Autos begrenzt, der Gebrauch von Plastiktüten verboten und die Werbung auf sachliche Information eingeschränkt würde? Gewiss nicht, es würde nur den Konsum drosseln.

Freiheit ist kein Wert an sich, denn sie ermöglicht ebenso viel Böses wie Gutes. Sie ist ein „leerer Rahmen“. So nannte sie sehr zutreffend der Vorsitzende der FDP, Christian Lindner. Freiheit ist wie die Luft zum Atmen. Doch die Luft selbst hat keinen Nährwert, sie dient nur der Verbrennung von Nahrung. Wert erhält die Freiheit erst, wenn sie mit wahren Werten gefüllt wird. Die heißen: Gerechtigkeit, Solidarität, Wertschätzung für Kultur und Verantwortungsgefühl für das Ganze der menschlichen Lebenswelt.

Statt den „leeren Rahmen“ wie einen Fetisch vor uns herzutragen, sollten wir ihn mit diesen Inhalten füllen. Vor allem mit mehr Gerechtigkeit, denn die schreibt vor, dass jeder nur so viel Freiheit beanspruchen darf wie alle anderen und wie dem Ganzen zuträglich ist. Es ist höchste Zeit, das Übermaß an Freiheit, das gerade im Konsumbereich verheerende Folgen hat, zum Wohle des Ganzen zu beschränken.

Hans-Dieter Gelfert

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