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Politik: Und jetzt noch mal mit Gefühl

FEIER IN VERSAILLES

Von Clemens Wergin

Die Deutschen sind ein pathosgeschädigtes Volk. Das hat viel mit den Exzessen der Nazidiktatur zu tun, die ja nicht allein extreme Verbrechen verübte, sondern sich auch extremer Rhetorik bediente. Wie auch mit einem protestantischen Politikverständnis, das im inszenierten Ereignis, in allein von Jahreszahlen abhängenden Beteuerungen immer gleich das Vorgespielte, nicht Reale und somit Falsche wittert. Aber haben die Skeptiker nicht Recht, die die Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag des ElyséeVertrages als bloße Beschwörung vergangener Gemeinsamkeiten sehen, die allenfalls für ein paar Tage übertünchen, dass sich Deutsche und Franzosen auseinander gelebt haben wie kaum zuvor in den letzten 40 Jahren?

Wer nur mit aufgeklärtem Zynismus dagegenhält, solche Inszenierungen seien im Medienzeitalter nicht zu umgehen, verkennt, dass Symbole, Pathos und Inszenierung schon immer Teil der Politik waren. Gesellschaften können ohne symbolhafte Handlungen nicht zusammengehalten werden. Ob der schwarze Robe des Richters einem Strafprozess seine psychische Wirksamkeit verleiht, ob Kaiserkrönungen im Mittelalter die göttliche Erwähltheit des Monarchen zum Ausdruck brachten oder die inzwischen ritualisierten Holocaust-Gedenktage an das Gedächtnis der Deutschen appellieren – staatliches Handeln braucht die öffentliche Inszenierung, um wirksam zu werden. Und: Auch eine auf Rationalität gegründete Demokratie braucht Sonn-, nicht nur Arbeitstage.

Die erste deutsche Parlamentssitzung in Versailles war also nicht nur ein gelungenes Theaterstück, sondern auch eine politische Willenserklärung. An dem Ort der Schmach für beide Nationen, an dem Otto von Bismarck 1871, nach dem Sieg gegen Frankreich, den Preußenkönig Wilhelm zum deutschen Kaiser ausrief und an dem Deutschland nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg den aufgezwungenen Friedensvertrag unterzeichnen musste: Dort fand jetzt die erste deutsche Parlamentssitzung im Ausland statt, zusammen mit den französischen Kollegen. Der negativ besetzte Ort wird zum positiven umgedeutet. Wer erschaudert bei so viel Geschichtsmetaphysik nicht wenigstens für einen kurzen Moment?

Das beste Argument für die Feier dieses Festtages liefert aber die Politik selbst. Nach dem in der Nachkriegszeit beispiellosen Zerwürfnis zwischen Deutschland und Frankreich beim EU-Gipfel von Nizza vor zwei Jahren haben beide Seiten sich wieder zusammengerauft. Die gemeinsame Initiative zur europäischen Verfassung, die vertieften Konsultationen, die doppelte Staatsbürgerschaft, all die kleinen und großen Projekte, die da in den letzten Tagen vorgestellt wurden: Sie sind das beste Beispiel dafür, dass Jahrestage nicht zum leeren Ritual verkommen müssen, dass sie eine eigene Dynamik entwickeln können, die der Politik den entscheidenden Schub gibt.

In ein paar Jahren wird niemand mehr wissen wollen, was zuerst da war: Die Angst, zum entscheidenden Datum nicht mehr vorweisen zu können als Szenen einer zerrütteten Ehe, oder ob der Jahrestag die schon gewachsene Einsicht nur beschleunigte, dass beide Länder international an Einfluss verlieren, wenn sie gegeneinander wirken. Wichtig ist allein, dass die bevorstehenden Feierlichkeiten halfen, die Lähmung der letzten zwei Jahre zu überwinden.

Wer vom Pathos nichts hält, kann sich also an die Ergebnisse halten. Die wären ohne Jahrestag sicher nicht so schnell zu Stande gekommen. Und allein das zählt doch für jene Realisten, die lieber von Interessen als von Freundschaft reden, oder? Das bisschen Brimborium mit Trommelwirbel werden sie ertragen können.

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