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Politik: UNGARN

Ungarn gehört seit eh und je zu Europa: ideologisch sind auch wir hauptsächlich vom Christentum und der Aufklärung geprägt, sozial wurde bei uns, wie in Westeuropa, eine fast tausendjährige Periode von Feudalismus durch den Kapitalismus abgelöst. Die großen Schrecken des 20.

Ungarn gehört seit eh und je zu Europa: ideologisch sind auch wir hauptsächlich vom Christentum und der Aufklärung geprägt, sozial wurde bei uns, wie in Westeuropa, eine fast tausendjährige Periode von Feudalismus durch den Kapitalismus abgelöst. Die großen Schrecken des 20. Jahrhunderts haben auch Ungarn getroffen, die beiden Weltkriege, Nazismus und Stalinismus, unverarbeitete Erfahrungen, die einen Neubeginn notwendig machen, aber auch erschweren. Ideologisch sind wir so ausgeleert wie die westlichen Länder. Die Perspektiven sind eben so trüb, weil der notwendige Prozess der Globalisierung mit den sozialen Bedürfnissen der Zeit, milde gesagt, nicht in Einklang gebracht werden kann.

Der Hauptunterschied zwischen der Entwicklung der mittel-osteuropäischen und der in den westeuropäischen Ländern ist, dass bei uns aus Gründen wie der türkischen und österreichischen Besatzung sowie Landesverteilungen der Prozess der Verbürgerlichung verspätet begonnen hat und verkrüppelt durchgeführt worden ist. Die bürgerliche Tradition ist in unserer geopolitischen Zone schwächer, die industrielle Entwicklung und damit auch das Lebensniveau sind zurückgeblieben, das gesunde nationale Bewusstsein verzerrt.

Es gibt in dieser Zone eine ungesunde Rivalität, in der Ungarn eine Schlüsselrolle spielt. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden zwei Drittel seines Gebiets unter den Nachbarn verteilt, die sich zum Teil dadurch erst konstituierten. Seitdem gibt es ein begründetes Misstrauen dieser Länder gegenüber Ungarn, wo die Nationalisten noch immer danach trachten, wenigstens die von ungarischer Geschichte geprägten Gebiete zurückzubekommen. Dieses Misstrauen führte oft zur Unterdrückung der ungarischen Minderheiten, und im Gegenzug zu noch stärkeren chauvinistischen Strömungen in Ungarn.

Meine erste Erwartung an das vereinigte Europa ist, das es den meist gehassten ost-europäischen Feind des Humanismus, den speziellen osteuropäischen Nationalismus endgültig vernichtet. Meine zweite Erwartung ist, dass wir es schaffen, Westeuropa einzuholen, was bürgerliche Entwicklung, zivilisatorische Errungenschaften und Lebensniveau betrifft. Dazu haben wir ein großes, und im Westen weitgehend ignoriertes geistiges Kapital, nicht nur kulturelle Schätze, sondern eine Haltung: Jahrhundertelang hatten wir zurückgebliebene demokratische Institutionen, dafür aber auch immer wieder große Intellektuelle – meistens Künstler –, die sich für das Ganze verantwortlich fühlten. Dieser Anspruch, die gesellschaftlichen Interessen als Ganzes zu vertreten, ist im Westen ziemlich ausgestorben, seit es zur Marktwirtschaft keine Alternativen mehr zu geben scheint. Der Bürger, der Citoyen, hat hier gesiegt, und sich in den Ruhestand begeben. Bei uns aber hat er noch nie gesiegt, ist also noch immer unruhig. Das kann für das vereinigte Europa ein fruchtbares Geschenk werden.

Der ungarische Schriftsteller Istvan Eörsi lebt in Budapest und Berlin. Zuletzt erschienen: „Der rätselhafte Charme der Freiheit“, 2003 bei Suhrkamp.

Istvan Eörsi

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