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1960

© bpk / Will McBride

Politik: Unter anderen Umständen

140 Jahre alt ist der Paragraf 218, der den Schwangerschaftsabbruch untersagt. Und wird immer noch bekämpft. Von Gegnern und Befürwortern

Auch dieses Jahr sind sie in Berlin wieder gegeneinander angetreten. Die einen trugen stumm weiße Holzkreuze durch die Stadt, die anderen verkleideten sich zum Beispiel als Kardinäle mit Clownsnasen und bliesen in Trillerpfeifen. Beide Gruppen waren klein, doch das ist ihre einzige Gemeinsamkeit: Die einen sind Abtreibungsgegner und veranstalteten einen „Marsch für das Leben“. Die anderen sind für eine Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs und machten eine Gegendemo. Bei ihnen ist Sarah Diehl schon mehrmals mitgelaufen. Die Feministin und Filmemacherin hat zuletzt die Dokumentation „AbortionDemocracy“ gedreht, darin geht es unter anderem um die rigide Abtreibungsregelung in Polen. Diehl hat sich dem Thema verschrieben, weil sie es empörend findet, dass jedes Jahr weltweit 70000 Frauen an den Folgen eines illegalen Abbruchs sterben. Auch mit den deutschen Verhältnissen ist Diehl unzufrieden. Die Pflichtberatung, die der Paragraf 218 vorsieht, bezeichnet sie als „diskriminierende Zwangsberatung“, das Gesetz nennt sie eine „Reproduktion patriarchaler Kontrolle“. „Abtreibung muss raus aus dem Strafgesetzbuch.“ Warum ihre Forderungen nicht von einer breiten Mehrheit der Frauen getragen werden, versteht Diehl nicht. „Unter Feministinnen gilt Abtreibung eher als Oldschool-Thema“, sagt sie.

Als im Jahr 2008 Wolfgang Böhmer, damals Sachsen-Anhalts Ministerpräsident, die höhere Zahl von Kindstötungen in den neuen Bundesländern mit dem liberalen DDR-Abtreibungsrecht in Verbindung brachte und von einer „leichtfertigen Einstellung zu werdendem Leben“ sprach, flammte die Debatte um den Paragrafen 218 noch einmal auf. Seitdem ist es fernab der Lager der sogenannten Pro-Life- und Pro-Choice-Vertreter, die jedes Jahr bei Demo und Gegendemo aufeinandertreffen, still geworden um das Thema, es sei denn, es geht um Fälle von Spätabtreibung.

Seit 140 Jahren gibt es den Abtreibungsparagrafen 218 schon. Auffallend ist seine hohe Kontinuität: Bis 1976 blieb er im Kern so wie im Jahr 1871 angelegt. Auch beim Blick weiter zurück bleibt der Eindruck von Kontinuität bestehen. Der Sadebaum, der im 18. Jahrhundert in botanischen Gärten eingezäunt wurde, damit Frauen sich ihm nicht näherten, wurde bereits im Kräuterbuch des antiken Pharmakologen Dioskurides als Abortivum erwähnt. Heute bestimmen zwei Fragen die Debatte – ab welchem Zeitpunkt ein Embryo ein Mensch ist und welche Rechte die Frau eigentlich hat. In den vergangenen Jahrhunderten fielen die Antworten überraschend ähnlich aus. Alle Fristenlösungen gehen auf Aristoteles zurück. Die Bedürfnisse der Frauen haben, wenn es um Abtreibung ging, stets eine untergeordnete Rolle gespielt.

Im Alten Rom war Abtreibung Männersache. Das männliche Familienoberhaupt besaß das ius vitae et necis – Recht über Leben und Tod – und konnte eine Abtreibung anordnen. Ein Abbruch auf Wunsch der Frau wurde bestraft. Dabei wurden nicht etwa mögliche Rechte des werdenden Lebens, sondern die des Gatten ins Feld geführt: Nachwuchs durfte ihm nicht vorenthalten werden.

Weil die Seele nach damaliger Vorstellung erst mit dem ersten Atemzug in den Körper eintrat, galt der Fötus in der Antike wenig, bis Aristoteles seine Sukzessivbeseelungstheorie entwickelte. Nach ihr ähnelt der Embryo zunächst einer Pflanze, empfängt aber noch im Mutterleib eine sogenannte Empfindungs- und Vernunftseele.

Diese Vorstellung, dass die Menschwerdung an einem Punkt X während der Schwangerschaft stattfindet, ist prägend bis in die heutige Zeit. Sämtliche Fristenlösungen, die eine Abtreibung bis zu einer bestimmten Schwangerschaftswoche erlauben, haben hier ihren Ursprung. Auch in der christlichen Lehre wird der Einfluss Aristoteles’ deutlich: Nach der Septuaginta-Übersetzung der Bibel zieht eine Abtreibung unterschiedliche Strafen nach sich, je nachdem ob der Fötus bereits wie ein Mensch geformt war oder nicht.

Im Mittelalter wird Abtreibung zunehmend geahndet, nach Ansicht des Rechtsgeschichtsprofessors Günter Jerouschek auch deshalb, weil die Bevölkerung wachsen soll. 1871 gipfeln die Verschärfungen in dem Paragrafen 218 des Reichsstrafgesetzbuchs, der besagt: „Eine Schwangere, welche ihre Frucht vorsätzlich abtreibt oder im Mutterleib tötet, wird mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren bestraft.“ 1943 ändern die Nazis den Paragrafen kurzzeitig. Unter ihnen herrscht für als „erbgesund“ geltende Frauen Gebärzwang, andere müssen bis in den siebten Monat hinein abtreiben. Abgesehen von diesem Zeitintervall überdauert der Paragraf fast unverändert mehr als 100 Jahre. Dann kommen Frauen wie Silvia Heyer.

Heyer sitzt in einem Raum mit hohen Decken in Berlin-Charlottenburg und erinnert sich an die Kämpfe der 70er Jahre. 1961 wurde sie, damals Au-pair-Mädchen in Paris, schwanger. Um abzutreiben, kehrte sie nach Deutschland zurück, fand zunächst aber keinen Arzt. Damals habe sie die weibliche Hilflosigkeit „unglaublich intensiv“ erlebt, sagt Heyer, heute 68 Jahre alt.

Mit anderen Frauen begann sie sich für eine Reform zu engagieren. Auf ein Tonband nahmen sie auf, wie sie die illegalen Eingriffe erlebt hatten, und spielten es im Audimax der Uni ab. Eine andere Aktion von Feministinnen führt zur Reform des Paragrafen: „Wir haben abgetrieben“ titelt der Stern am 6. Juni 1971, unterschrieben haben 374 Frauen, darunter Romy Schneider und Alice Schwarzer, die älteste ist 77 Jahre alt, „bei der Abtreibung beinahe gestorben“, fügt sie hinzu. Gegen so viele kann die Staatsanwaltschaft nicht vorgehen. Im Juni 1974 beschließt der Bundestag eine Fristenregelung, nach der ein Abbruch innerhalb der ersten drei Monate straffrei sein soll. Drei Tage später wird sie vom Bundesverfassungsgericht gekippt. „Das sich im Mutterleib entwickelnde Leben steht als selbständiges Rechtsgut unter dem Schutz der Verfassung“, begründet das Gericht seine Entscheidung ein Jahr später. Nach hitzigen Debatten tritt 1976 das Indikationsmodell in Kraft: Abtreibung ist strafbar, es sei denn, eine Frau sucht innerhalb der ersten drei Monate einen Arzt auf, der eine medizinische, kriminologische, eugenische oder Notlagenindikation feststellt. Heyer, die 1982 bei Pro Familia in Berlin anfing und Landesvorsitzende wurde, blieb unzufrieden. „Wir träumten davon, einen Stempelautomaten mit Indikationsnachweisen aufzustellen, so dass sich die Frauen einfach bedienen könnten.“

Mitunter haben sich die Kämpferinnen der 70er Jahre auf die Weimarer Republik berufen. Es herrschte der Eindruck, beim Thema Abtreibung habe es eine Tendenz zur weiblichen Selbstbestimmung gegeben, die nur durch die Nazis unterbrochen worden sei. Ganz stimmt das nicht. In der Weimarer Republik gab es durch die Wirtschaftskrise mehr Abtreibungen denn je, jährlich bis zu einer Million, oft dilettantisch ausgeführt. In ihrem Tagebuch schildert eine Berliner Ärztin, wie sie zu einer Frau gerufen wurde – fünf Kinder, hohes Fieber und „im Tischkasten zwischen Brot und alten Lappen eine Spritze mit einem rostigen Metallansatz“. Die Frau stirbt wie 50000 andere jährlich. Trotzdem sehen viele keine andere Möglichkeit. In einer Frauenzeitschrift heißt es: „Wenn das zweite oder dritte Kind kommt, beginnt das Elend. Bereits im Mutterleib hungert der kleine Proletarier.“ Es gibt Massenproteste gegen den Paragrafen. Dennoch ist es ein Missverständnis, diese Demonstrationen als rein emanzipatorischen Akt zu sehen. An sich sei sie „wie jeder fühlende Mensch“ gegen einen Abbruch, schreibt die Abtreibungsärztin Elsa Kienle und betont, dass Frauen nicht aus „Bequemlichkeitsgründen oder aus Mangel an Muttergefühl“ abtrieben. Und die kommunistische Ärztin Martha Ruben-Wolf frohlockt, dass im Arbeiterstaat die Mutterschaft die „soziale Funktion“ der Frau darstellen werde.

Im ersten Arbeiterstaat auf deutschem Boden gab es dann trotzdem eine liberale Abtreibungsregelung. Ab 1972 durften DDR-Bürgerinnen in den ersten drei Monaten frei über einen Abbruch entscheiden. Besonders interessant ist die Regelung im Nachhinein, weil sie zeigt, wie die emotionale Verfasstheit nach einem Abbruch womöglich gesellschaftlich vermittelt ist. In dem kürzlich erschienenen Buch „Abgebrochen“ von Heike Walter schildern die meisten der Frauen, die zu DDR-Zeiten eine Abtreibung erlebten, die Abwesenheit von Gewissensbissen. „Da müsste man ja jedem Sperling, der aus dem Nest fällt, hinterherweinen“, sagt eine und begründet ihre Haltung auch mit dem Verhalten ihrer Umgebung: „Der Wille zur Unterbrechung war da, weil die mir weder ein Ultraschallbild gezeigt haben noch von einem Kind gesprochen haben.“ Jahre später will die Tochter dieser Frau im wiedervereinigen Deutschland abtreiben lassen. Dabei, sagt die Frau, sei ihre Tochter „richtig bombardiert“ worden mit Ultraschallbildern und Hinweisen zur Embryonalentwicklung – was zwangsläufig zu schlechtem Gewissen führe.

Diese Meinung teilt die Wissenschaftlerin Barbara Duden. In ihrem Buch „Der Frauenleib als öffentlicher Raum“ beschreibt sie, wie Visualisierungen des Fötus das Erleben von Schwangerschaft und Abbruch beeinflussen. Tatsächlich hatte das amerikanische „Life“-Magazin 1965 ein Titelfoto abgedruckt, das zumindest in der westlichen Welt die Haltung zu Abtreibung maßgeblich prägen sollte. Zu sehen war ein Fötus, geformt wie ein kleiner Mensch und einsam wie ein Astronaut. Allein in den ersten vier Tagen verkaufte sich das Blatt acht Millionen Mal, und überall wurden die Bilder des Fotografen Lennart Nilsson nachgedruckt.

Beim Verein Kaleb in Berlin-Mitte hängt im hinteren Raum auch ein Bild von einem Fötus. Am Tisch im vorderen Zimmer sitzen zwei Männer, Walter Schrader und Gerhard Steier. Fotos wie diese gehören zu ihrem Arbeitsmaterial, Ziel des christlichen Vereins ist es, Frauen von einer Abtreibung abzubringen. Sie beraten Schwangere und bieten Patenschaften für die Kinder an. Zuvor hat der Berliner Geschäftsführer Steier in einem Heim gearbeitet. „Hätte ich bei irgendeinem der Kinder jemals gesagt: Besser wäre es gewesen, wenn deine Eltern dich nicht bekommen hätten?“

Im Laufe des Gesprächs werden die beiden aber weniger von den Kindern, sondern eher von den Müttern sprechen. Nur ein striktes Abtreibungsverbot, sagen die Männer, könne Frauen schützen. Zu DDR-Zeiten hat Schrader als Pfleger in einer Klinik gearbeitet. Er spricht davon, wie verzweifelt die Frauen bei einer Abtreibung oft gewesen seien, wie sehr die Männer Druck gemacht hätten. Dazu müssten sie gar nichts sagen. Oft sei es eher ihr Schweigen, die Tatsache, dass der Satz „Ich freue mich auf unser Kind“ nie falle. Schrader findet, dass auch der 1996 beschlossene Paragraf 218 – durch die Wiedervereinigung war eine Neufassung nötig – verantwortungslosen Männern in die Hände spielt.

Seit dieser Reform bleibt der an sich strafbare Abbruch straffrei, wenn er innerhalb der ersten drei Monate erfolgt und vorher ein Beratungsgespräch geführt wurde. Eine ärztliche Indikation muss nicht mehr vorliegen, es sei denn, es geht um eine Spätabtreibung. Hier gibt es eine überraschende Wendung in der Debatte: Derzeit mehren sich die Stimmen der Frauen, die sagen, dass sie sich bei Anzeichen einer Behinderung richtiggehend gedrängt fühlen zur Abtreibung.

Ansonsten scheint immer noch ein Tabu zu herrschen. Die Berliner Professorin Hildegard von Balluseck, die 1976 eine von den „Stern“-Frauen war, ließ vor einigen Jahren in einem Magazin verlauten, sie habe damals nicht abgetrieben und nur aus Protest unterschrieben. Als sie tatsächlich schwanger wurde, habe sich ihre Haltung zu Abtreibung verändert. Heute will sie nichts mehr dazu sagen, sie habe keine Lust als „Abtreibungs-Tussi“ durch die Medien zu wandern, sagt sie am Telefon.

Während viele also schweigen, sind Pro-Life- und Pro-Choice-Vertreter umso lauter. Beide beschweren sich über den Paragrafen, aber aus unterschiedlichen Motiven, beide treten als Beschützer der Frauenrechte auf, allerdings auf verschiedene Weisen. Mitunter scheint es, als setzten beide Seiten fort, was schon seit Jahrhunderten passiert: Die Frauen werden für Positionen instrumentalisiert, ihre Lebenswirklichkeit, zumindest im heutigen Deutschland, bilden weder Feministinnen noch Lebensschützer adäquat ab.

Das zumindest legt die Geschichte von Dörte Mesch nahe. Vor zwei Jahren schliefen Mesch und der Mann, den sie liebt, gleich zu Anfang ohne Kondom miteinander. „Ist es ein Spiel mit dem Feuer? Ist es unser unbewusster Versuch, Entscheidungen zu erzwingen? Ist es das biologische Erbe des Menschen, sich fortpflanzen zu wollen? Ist es Dummheit und Naivität?“, fragt Mesch, heute 32, in dem beeindruckenden Buch „Ausgeträumt“, das im Selbstverlag erschien. Was immer es war, es endet in einer Schwangerschaft, doch ist der Geliebte zugleich Ehemann einer anderen Frau. Mesch entscheidet sich für eine Abtreibung, wie 110693 andere Frauen im Jahr 2009. In ihrer Geschichte finden sich Argumente für jedes Lager und zugleich für keines: ein wenig drängt der Mann sie zum Abbruch, ja. Trotzdem glaubt sie nicht, dass ihr und ihrer Beziehung damit geholfen gewesen wäre, das Kind gegen seinen Widerstand zu bekommen.

Nach dem Abbruch wirft die Trauer sie schier um. Es fühlt sich also nicht wie ein harmloser Eingriff an, wie Feministinnen es mitunter darstellen, sie erleidet aber auch kein Post-Abortion-Syndrom – so bezeichnen Lebensschützer ein psychisches Krankheitsbild, das sie bei Frauen nach einem Abbruch oft zu beobachten meinen. Mesch erholt sich und nimmt den Abbruch als, so sagt sie am Telefon, „Warnschuss“, ihr Leben zu ändern.

Die rechtlichen Aspekte, über die sich die Lager so erregen, kommen kaum vor, wenn man mit ihr spricht. Die Pflichtberatung schildert sie als positiv, auf die Frage, ob sie sich diskriminiert gefühlt habe, reagiert sie fast überrascht. Und dann erwähnt sie noch etwas. Dass ein Abbruch an sich immer noch strafbar sei, habe sie gar nicht so richtig gewusst. Sie hatte genug mit sich selbst zu tun.

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