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Politik: Volkes Stimmung

Von Gerd Appenzeller

Eigentlich ist die Sache gelaufen. Das schwarzgelbe Lager, wenn man die Wahlgemeinschaft aus CDU, CSU und FDP so nennen darf, hat in der Bundesversammlung 19 Stimmen mehr als SPD, Grüne und PDS. Der nächste Bundespräsident heißt, wenn am 23. Mai im Plenarsaal des Reichstages die Gesetze der Ratio regieren, Horst Köhler. Die Deutsche Verlags-Anstalt in Stuttgart ist sich des Ausgangs so sicher, dass sie schon ein Buch mit dem Titel „Von Theodor Heuss bis Horst Köhler – die Bundespräsidenten im Porträt“ ankündigt. Wenn zehn Wahlfrauen und -männer am Sonntag nicht nach dem Kopf, sondern aus dem Bauch entscheiden, wird das für die DVA teuer.

Alles gelaufen? Oh nein. Zum einen ist durchaus denkbar, dass es über die Lagergrenzen hinweg Grenzgänger gibt – wobei die unterschiedliche Persönlichkeitsstruktur der Bewerber eher dafür spricht, dass dies, wenn überhaupt, eine Einzelentscheidung gegen Köhler und für Schwan als umgekehrt sein dürfte. Aber spannender, zukunftsträchtiger ist etwas anderes: Nach einer ersten Runde der Kandidatensuche, wie sie auf Seiten der Union peinlicher nicht hätte verlaufen können, treten nun sowohl CDU und CSU als auch die SPD mit Persönlichkeiten an, auf die das Land stolz sein kann.

Stolz? Gerade weil sich der politische Routinebetrieb im ersten Findungs- und Verwerfungsverfahren so blamiert hat, stehen nun mit Horst Köhler und Gesine Schwan zwei Bürger bereit, mit denen keiner gerechnet hatte und von denen keiner ein Zähl- oder Verlegenheitskandidat ist. Denn nach dem ergebnislosen Stochern im Topf mit den üblichen Namen konnten nur noch zwei völlig überraschende Kandidaturen als Befreiungsschlag wirken. Schwan und Köhler würden das Land repräsentieren, mit beiden könnten sich die Menschen identifizieren. Beide treffen Stimmungen des Volkes. Er fordert die Menschen auf, die eigene, deutsche Position an der anderer Staaten zu messen und sich Herausforderungen nicht zu verweigern. Sie wirbt für Vertrauen und Verantwortung in Politik und Gesellschaft. Das sind Diskussionsfelder, für die die Bürger sensibel sind.

Zukünftige Suchen nach geeigneten Frauen und Männern für das Amt des Staatsoberhauptes werden am Ergebnis des Jahres 2004 gemessen werden: Gesine Schwan wirkt wie ein Wirbelwind. Mit gewinnendem Lächeln spricht sie deutsche Defizite an. Aber ihre Herzlichkeit täusche niemanden darüber hinweg, dass sie sich in den Flügelkämpfen der SPD und früher an der Freien Universität als eisenharte Kämpferin erwiesen hat.– Horst Köhler blickt auf Deutschland, nüchtern analysierend, so, wie sein IWF auf ein Land schauen würde, dessen Bonität und Perspektiven zu prüfen sind. Aber hinter seiner Kühle blitzt auf, dass er auch ein Gerechtigkeitsfanatiker ist, der in seiner Washingtoner Zeit nicht verbarg, wie sehr er die Arroganz der Industrienationen gegenüber der Dritten Welt verachtet. Beide sind auf ihre Weise welterfahren – eine Eigenschaft, die man nicht durch Sesshaftigkeit, sondern nur durch Mobilität erwerben kann.

Weil sie zwar diese Welt kennen, die Bürger dieses Landes aber nicht so recht wussten, wer sie sind, haben Gesine Schwan und Horst Köhler getan, was das Grundgesetz nicht vorsieht: Sie haben einen Wahlkampf geführt, sich bekannt gemacht, sind über die Dörfer getingelt. Heute wissen wir über sie und ihre Familien, über ihre Stärken und Schwächen, mehr, als wir über viele seit Jahrzehnten in der Politik fest etablierte Frauen und Männer je erfahren haben – und je erfahren wollten. Wir lernten zwei Menschen kennen, die trotz des Drucks auf eine sympathische Weise unverstellt und unverkrampft bleiben möchten.

Volkswahl des Staatsoberhauptes hin oder her – wir haben in den letzten Wochen etwas erlebt, das wir nicht mehr missen möchten. Ja, wir hatten gute Präsidenten. Aber jetzt wissen wir, dass überzeugende und chancenreiche Bewerber um das höchste Staatsamt nicht aus dem Kreis der Berufspolitiker kommen müssen. Das dürfen Union und SPD nicht mehr vergessen. Wir auch nicht.

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