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Politik: Vom Häftling zum Menschenrechtler

Fünf Jahre nach seiner Freilassung aus Guantanamo engagiert sich Murat Kurnaz für die Auflösung des US-Gefangenenlagers

In der Kanzlei des Bremer Rechtsanwalts Bernhard Docke geben sich Journalisten derzeit die Türklinke in die Hand. Nicht, weil sie den Juristen sprechen wollen, sondern weil sein bekanntester Mandant hier nach striktem Terminplan zu Interviews aufläuft. Es ist Murat Kurnaz, jener türkischstämmige Bremer, der viereinhalb Jahre lang im berüchtigten US-Gefangenenlager Guantanamo Bay eingepfercht war – wegen Terrorverdachts. Am kommenden Mittwoch jährt sich zum fünften Mal der Tag seiner Freilassung.

Docke war 2006 dabei, als der Ex-Häftling Nummer 61 auf dem US-Stützpunkt Ramstein einschwebte. „Für Murat Kurnaz war das wie eine Wiedergeburt nach fünf Jahren Hölle. Er ist mit einer Bärennatur durch diese Drangsal gegangen.“ Und dann erzählt der hagere Jurist noch, wie er sich freut, dass der 29-Jährige sein Leben „in vollen Zügen genießt“: auf seinem 185-PS-Motorrad und seit 2009 als Ehemann und Vater.

Drei Stockwerke tiefer parkt Kurnaz seinen rot-weißen Flitzer. Und schon erscheint er in der Kanzlei: ein bulliger Muskelprotz mit Armen so dick wie anderer Leute Beine, mit Stoppelfrisur und Drei-Tage-Bart. Kein Vergleich mit 2006. Damals erinnerte er an Harry Potters Wildhüter Hagrid: mit bauchlangem Zottelbart und wilder Mähne.

Warum er sich scheren ließ, will er nicht verraten. Ein klarer Schnitt mit der Vergangenheit? Nein, das sei es nicht. „Ich möchte diese Sache nicht vergessen“, sagt er. „Denn dann wäre ich wahrscheinlich nicht mehr aktiv.“ Aktiv für die Menschenrechte. Das ist die neue Bestimmung des strenggläubigen Muslims: In Zusammenarbeit mit Menschenrechtsorganisationen wie „amnesty international“ reist er durch die Welt, um an die „170 Verlorenen“, wie Anwalt Docke sie nennt, zu erinnern, die noch immer in Guantanamo sitzen. Und weil er über die „Geheimgefängnisse“ bei US-Verbündeten aufklären will. „Er ist eine Art Menschenrechtsbotschafter“, meint Docke.

Nebenbei baut Kurnaz gerade einen Verein auf, der kriminellen Jugendlichen helfen soll. Ein Buch über seine Haft hat er auch verfasst: „Fünf Jahre meines Lebens. Ein Bericht aus Guantanamo“. Bei zwei Dokumentarfilmen hat er mitgewirkt, samt Berlinale-Besuch. Demnächst wird auch ein Spielfilm über ihn gedreht, mit einem Schauspieler als Kurnaz-Darsteller. Und die Rocksängerin Patti Smith hat ihm einen Song gewidmet: „Without Chains“ – ohne Ketten. Der Gastarbeitersohn ist also fast zum Star geworden. Aber einer ohne Allüren. Bescheiden sitzt er am Anwaltskanzlei-Tisch und erzählt gelassen von seinen Torturen, als würde er sie nur aus seinem Buch kennen. Was das Schlimmste für ihn war? Dass auch Kinder in Guantanamo schmoren mussten. „Der Jüngste war neun Jahre alt“, erzählt Kurnaz. „Sie bekamen dasselbe Essen wie wir, dieselben Schläge. Ich musste zusehen und konnte nicht helfen.“ Durchgestanden habe er das alles, weil er so gläubig sei: „Ich habe Gott gebeten, mir die Kraft und Geduld zu geben.“ Und weil er sich, so gut es ging, fit gehalten habe. „Wenn ich bei Liegestützen aber erwischt wurde, kam ich schon wieder in Isolationshaft.“

Keine Wut ist da zu spüren. Höchstens Spott und Verachtung, vor allem für den damaligen Kanzleramtschef Frank-Walter Steinmeier (SPD). Die Amerikaner hatten schon bald signalisiert, dass sie den Deutsch-Türken freilassen könnten, und auch deutsche Geheimdienstler hielten ihn für unschuldig. Aber ausgerechnet Rot-Grün wollte ihn nicht wieder einreisen lassen. Steinmeier und andere stuften ihn aufgrund zweifelhafter Indizien weiterhin als „Gefährder“ ein. Erst CDU-Kanzlerin Angela Merkel sorgte 2006 für seine Freilassung. Auf Schadenersatz oder auch nur eine Entschuldigung wartet Kurnaz bis heute. „Aber ich vergeude meine sehr wertvolle Zeit nicht, indem ich auf Steinmeier oder irgendwelche unwichtigen Menschen sauer bin“, sagt er mit ruhiger Stimme.

Dabei war auch sein Neustart in Bremen nicht ganz einfach. „Ich habe Probleme, wenn ich einen Arbeitsplatz suche“, erzählt er. „Die Leute haben Angst, sind sehr zurückhaltend.“ So hangelt sich der junge Familienvater jetzt von einem befristeten Job zum anderen. Zurzeit arbeitet er für einen sozialpädagogischen Verein in Bremerhaven. Trotzdem sagt er: „Ich fühle mich gut.“ Auch ohne Psychotherapie. Er träumt noch nicht mal von seiner Haft. Aber groß feiern wird er seinen fünften Wiedergeburts-Tag nicht. „Denn es gibt Guantanamo immer noch.“

Lieber geht er am Mittwochabend zu einer Vorab-Vorführung der Dokumentation „Die Guantanamo-Falle“, die am 3. September im Dritten läuft (NDR/RB, 23 Uhr). Regisseur Thomas Wallner glaubt, dass Kurnaz’ Gedankengut früher „sehr viel radikaler war, als er heute zugeben will“. Aber dass er Gewalttaten begehen würde, das sei „völlig abwegig“.

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