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Politik: Von Boston geradeaus

Von Clemens Wergin

Wenn es nach den Europäern ginge, wäre der nächste amerikanische Präsident schon gewählt. Denn nichts eint Europa im Moment so sehr wie die Abneigung gegen die Regierung Bush und ihre selbstherrliche Außenpolitik. Aber obwohl auch eine Mehrheit der Amerikaner glaubt, dass George Bush im Irak viele Fehler gemacht hat, so weiß John Kerry doch genau: Nicht Bush zu sein, das wird nicht reichen. Kerry muss eine Mehrheit überzeugen, dass er es besser kann.

Bill Clinton, der letzte demokratische Präsident, hat seine Wahlkämpfe in den 90ern mit dem Song „Don’t stop thinking about tomorrow“ von Fleetwood Mac begonnen und gewonnen. Doch seit die Zukunft nicht mehr nur unzählige Chancen, sondern auch unheimliche Bedrohungen bereithält, sind die Demokraten in der Defensive. Außen und Sicherheitspolitik war seit Lyndon B. Johnsons Präsidentschaft Ende der 60er nicht mehr ihr Feld. Deshalb hat sich Kerry ein Lied von Bruce „The Boss“ Springsteen ausgesucht mit dem markigen Titel: „No surrender“, keine Kapitulation. Das passt: Kerry muss Bush auf dessen Feld schlagen. Nur wenn er die Amerikaner überzeugen kann, ein guter Oberbefehlshaber zu sein, werden sie ihm bei den anderen wichtigen Themen – Staatsfinanzen, Wirtschaft, Gesundheitskosten – folgen.

Aus europäischer Sicht ist es kaum verständlich, dass Bush trotz des Irak-Desasters immer noch Chancen auf einen Wahlsieg haben soll. Dabei verkennen viele, dass die demokratische Partei nach dem 11. September in der Versenkung verschwunden war. Bushs Team hat es meisterhaft verstanden, den Schock und die übersteigerte patriotische Reaktion darauf für sich zu vereinnahmen. Und so glaubten die demokratischen Abgeordneten in Kongress und Senat, sie könnten sich weder Bushs Sicherheitsgesetzen noch dem Irakkrieg widersetzen. Erst das Nachkriegsdesaster im Irak und Howard Deans aggressiver Anti-Bush-Wahlkampf haben die Partei aus ihrer Apathie geholt – und den Weg bereitet für die beeindruckende Demonstration von Stärke und Geschlossenheit der letzten Tage. Das Wunder ist weniger, dass Bush wiedergewählt werden könnte, sondern dass die Demokraten wiederauferstanden sind und Kerry eine echte Chance hat, Bush zu schlagen.

Alle, die ihn als steifen Zauderer sahen, hat Kerry überrascht. Seine Rede war geradezu leidenschaftlich und hatte in ihren besten Passagen etwas vom „Call-and-Response“-Schema eines Gospelgottesdienstes. Mit diesem Refrain: „Amerika kann es besser. Hilfe ist auf dem Weg.“ Kerry setzte fort, was den ganzen Parteitag geprägt hatte: hart, aber nicht zu hart gegen Bush – einigen, nicht spalten. Und nachdem er die Fragen der inneren und äußeren Sicherheit abgeräumt hatte, zeigte Kerry, was er noch zu bieten hat: einen den Chancen der Zukunft zugewandten Optimismus, der dem Clintons nicht nachsteht. So hat Kerry eine illustre Schar von ehemaligen Clinton-Beratern um sich geschart, die signalisieren sollten, dass der Kandidat in Außen-, Sicherheits- und Wirtschaftsfragen ganz auf die Mitte setzt. Denn um die je sechs bis zehn Prozent Wechselwähler im Zentrum geht es im November. Und um 18 Staaten, in denen der Ausgang des Rennens als offen gilt.

Kerry verkündete jenen unerschütterlichen amerikanischen Optimismus über „das Morgen, das besser sein wird als das Heute“, wie Fleetwood Mac singt. Damit setzt er sich ab vom düsteren, bedrohungsgeladenen Weltbild der Bush-Regierung. Amerika soll in der Welt respektiert, nicht gefürchtet werden, sagt Kerry. Die Europäer, die dieses Amerika vermissen, hat er schon auf seiner Seite. Nun muss er nur noch die Amerikaner gewinnen.

„Ich bin bereit, wieder jünger zu werden“, heißt es im Lied von Springsteen. Darum geht es bei der Wahl: Wird Amerikas politisches Leben weiter von der Terrorangst beherrscht, oder gelingt es Kerry, den Amerikanern wieder Lust auf die Zukunft zu machen.

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