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Politik: Von einer Gesetzlosigkeit in die nächste

PRIZREN . Seit fünf Uhr früh wartet Colonel Rupert Colville, Vertreter des UN-Flüchtlingshilfswerkes, am Straßenrand vor dem Grenzzaun auf den großen Augenblick.

Von Caroline Fetscher

PRIZREN . Seit fünf Uhr früh wartet Colonel Rupert Colville, Vertreter des UN-Flüchtlingshilfswerkes, am Straßenrand vor dem Grenzzaun auf den großen Augenblick. Es wird heißer und heißer in der Sonne. Langsam staut sich ein Konvoi von Journalisten in Morina auf, die alle in das Kosovo wollen. In gemieteten Privatwagen und großen Caravans mit Satellitenschüsseln auf dem Dach sind sie angerückt. Schon jetzt rangeln sie um die ersten Plätze - am liebsten würden sie vor dem Konvoi der KFOR-Truppen herfahren, auf den alle warten.

In der Spätmittagshitze rückt der bärtige Presseoffizier Dietmar Jeserich von der Bundeswehr an. Er klebt Papier auf die Seitenwand eines kleines Lastautos, dann zeichnet er die Ordnung der erwarteten Kolonne in militärischen Symbolen auf und erklärt den Einmarschplan. KFOR-Colonel Helge Eriksen hat inzwischen begriffen, daß kein Rad eines Nato-Jeeps hier durchkommt, solange die Wagen der Medien die Straßen weiter blockieren. Er steigt auf ein Autodach, fordert die Journalisten auf, ihre Vehikel auf die Wiese schaffen, damit die Panzer Platz haben.

Derweil klettern immer mehr Menschen über Zäune und Gitter, dringen auf jugoslawisches Gebiet vor: Fotografen aus dem Ausland, Albaner und Kosovaren holen sich ihre Kostprobe der Kapitulation der Serben. Einige reißen die beiden jugoslawischen Flaggen herunter, die den Grenzpunkt markieren, und tragen die Trophäe auf der albanischen Seite zum Tor heraus. Die dortigen Grenzposten lassen es geschehen.

Plötzlich hört man Menschen "Nato! Nato! Nato!" rufen: Die ersten Panzer der Bundeswehr sind da, passieren die Grenze. Sofort macht sich der Medienkonvoi auf und folgt ihnen. Auf der jugoslawischen Seite tobt sich vor aller Augen die hilflose Rache an dem verhaßten Grenzhäuschen aus. Alte Boiler, Schranktüren, Akten sogar die Antenne auf dem steilen Dach des Grenzhauses werden geplündert, zertreten, mit Hämmern demoliert. Kinder und Erwachsene zerren an Türen und Fenstern und dringen von allen Seiten in das Gebäude ein. "Die Serben", die eben noch zu sehen waren, haben sich zurückgezogen, in Gegenwart der Panzer toben die Opfer sich aus.

Der Zug bewegt sich fort und löst sich auf der knapp 20 Kilometer langen Straße nach Prizren in kleine Konvois und Einzelwagen auf. Halil Hysenaj, der als Übersetzer in unserem klapprigen Opel mitfährt, ist sehr still. Nach dem 2. April, als in seinem Dorf Sopina bei Musutiste 44 Zivilisten von Paramilitärs ermordet wurden, ist der schüchterne Mann mit Frau und Kindern nach Albanien geflohen. An diesem Tag, dem 2. April, war seine 72jährige Mutter gestorben, "am Schrecken" sagt er. Halil Hysenaj, freut sich, das Kosovo wiederzusehen. Auch Shirbin, der Fahrer, möchte unbedingt nach Prizren, wo er eine Wohnung hat. Beide Kosovaren haben mit ihren Honorarforderungen die lokale Fahrer-/Übersetzermafia in Kukes unterboten, die satte Umsätze verbucht.

In dem Wagen, in dem auch die Tagesspiegel-Reporterin sitzt, fahren ein argentinischer Fotograf sowie ein deutscher Schriftsteller mit. Bald verlieren Fahrer und Journalisten auf der Straße die anderen Wagen aus den Augen. Jeder hält an, wo er will, um zu sehen, was seit Monaten nur ein schwarzes Stück Land in der Vorstellung Europas war.

Nun sind die Straßen ruhig, mit Ausnahme des Konvois ist niemand zu sehen. An den Straßenrändern liegen die verstaubten, doch unübersehbaren Zeichen der Vertreibung: Kinderschuhe, Gummistiefel, Wasserflaschen, geplatzte Mehlsäcke, ein Eisenofen, der auf der Flucht zu schwer für das Gefährt geworden war, ein verlorener Hausschlüssel liegen herum. Auch Autowracks und Traktoren sieht man manchmal - und den Krater, den eine Nato-Bombe neben der Straße hinterlassen hat. Es muß eine jener Bomben gewesen sein, die versehentlich Flüchtlinge traf. Der Krater ist schlammig, ein Traktorwrack ragt aus dem Dreck.

Dann stehen plötzlich Soldaten an der Straße. Keine Nato-Soldaten, sondern Serben, am Straßenrand, mit aufgepflanzter oder mit geschulterter Waffe, daneben ein Militärbus. Der Dolmetscher und der Fahrer erschrecken am meisten. Der Fotograf will anhalten und die Serben fotografieren. Aber die anderen hindern ihn daran, der Wagen macht Tempo. Wo sind die KFOR-Fahrzeuge geblieben? Außer Journalisten und Belgrads Armee scheint keiner unterwegs zu sein.

Kurz vor Prizren begrüßen die Begleiter aus dem Kosovo gelegentlich jemanden mit Handzeichen, kurbeln die Scheibe herunter und tauschen sich aus über Gerettete und Geflüchtete. Für Wiedersehensfreude bleibt nicht viel Zeit. Zu viele jugoslawische Soldaten sind hier. Es sind Hunderte, wenn nicht Tausende. Am Ortseingang von Prizren schließlich sehen die Journalisten einen Parkplatz voller Satellitenschüsseln. Auf dem Fabrikgelände hinter dem Parkplatz hat KFOR ein Lager aufgeschlagen. KFOR-Soldaten stehen Wache. Die Presse sucht in ihrer Nähe Schutz. Viele der mitgekommenen Kosovaren haben inzwischen Angst, in die Stadt hineinzufahren. Mit der massiven Präsenz eines selbstbewußt auftretenden serbischen Militärs hatten sie nicht gerechnet. So machen sich ein paar der Journalisten zu Fuß auf den kurzen Weg in die Stadt. Sie laufen vorsichtig, denn sie wissen um die Minen und merken, wie ungesichert das Terrain wirkt. Noch haben sie nichts vom Tod ihrer zwei Kollegen vom "Stern" gehört.

Die Journalisten kommen nicht weit. Wenige hundert Meter weiter stoßen sie auf eine Straßensperre serbischer Polizei. Pässe und die handschriftlich ausgestellten KFOR-Akkreditierungen, die nicht einmal ein offizieller Stempel schmückt, beeindrucken die Militärs nicht. Trotzdem lassen sie eine Handvoll Leute passieren.

Doch kaum hundert Meter weiter ist eine zweite Straßensperre aufgebaut. Schon von weitem sieht man, daß mit diesen Burschen nicht zu scherzen ist. Ein Scharfschütze hat sein Maschinengewehr auf dem Sims eines kleinen Kiosks aufgebaut, andere Militärs stehen mit umgehängtem Gewehr zu beiden Seiten der Straße, in der Mitte pflanzt sich ein etwa 30jähriger mit schwarzem T-Shirt und kurzgeschorenem Schädel auf und entsichert sein Maschinengewehr. Es sind Paramilitärs. Auf dem T-Shirt prangt der Schriftzug "Underground" (Untergrund). Verächtlich fragt er nach Pässen.

Bis auf die Milizionäre und die Journalisten sind die Straßen menschenleer. Schnell dämmert den Medienleuten, daß es höchste Zeit für den Rückzug ist. Dazu werden sie auch aufgefordert: "This is Serbia! Not Nato-country! Get out!" (Hier ist Serbien, nicht Nato-Land. Haut ab!) ruft der Bewaffnete.

Auf dem Rückweg trifft die Journalistengruppe den Bundeswehr-Presseoffizier Jeserich. Auch er war offenbar nicht auf eine so massive Präsenz der Serben gefaßt. Ein paar Stunden vergehen in der Hitze auf dem Parkplatz. Das Gerücht macht die Runde, der schwer bewaffnete Paramilitär an der Straßensperre sei Arkans Mann vor Ort: Prizrens Geheimdienstchef Petrovic, ein vom Haager Tribunal gesuchter Verbrecher. Am Nachmittag entscheidet Jeserich, für ein Pressekonvoi den Durchbruch durch die Straßensperre zu versuchen. Tatsächlich passiert der Konvoi dann den Checkpoint unter dem Schutz eines Panzers. Die Gruppe bewegt sich durch Prizren auf das einstige Hauptquartier der OSZE zu.

Im Konferenzsaal im Erdgeschoß versammeln sich die Presseleute vor einem Podium. Brigadegeneral Fritz von Korff, der Kommandeur der multinationalen KFOR-Einheit, muß dringende Fragen zur Sicherheit der Journalisten beantworten. Die Offiziere geben sich zuversichtlich und bitten um Geduld. Daß es am ersten Tag Probleme gebe, sei normal. Von einem Schußwechsel in Suva Reka haben sie so wenig gehört wie von der Anwesenheit des Kriegsverbrechers Petrovic. Daß die Lage nicht ungefährlich ist, räumen sie ein.

Für Journalisten, das machen die Offiziere klar, sind sie nicht verantwortlich. Die aber wissen nicht, wo sie sicher die Nacht verbringen können. Eine halbe Stunde lang sieht es so aus, als sei das Angebot der KFOR-Vertreter ernst gemeint, den Journalisten in den verwüsteten Büros der OSZE Quartier für die Nacht zu bieten. Einige holen hoffnungsfroh ihre Schlafsäcke aus den Autos. Doch dann heißt es, nein, keine Zivilisten in diesem Gebäude. Da beschließen die meisten, die Nacht in Albanien zu verbringen. Ein angstgejagter Konvoi beeilt sich, noch vor Einbruch der Dunkelheit vorbei an serbischen Soldaten und leeren Dörfern zurück nach Kukes zu fahren.

Kurz hinter der albanischen Grenze, die Nacht ist noch nicht angebrochen, winkt ein Posten den Fahrer Shirbin zu sich. Er wechselt mit ihm zwei freundliche Worte - und schlägt ihm dann plötzlich die Faust mitten ins Gesicht. Gas geben und weiterfahren. Den Ärger machte die örtliche Mafia. Der Kosovare hat ihre Mietchauffeure unterboten und bekam nun dafür die Quittung. Von einer Gesetzlosigkeit in die andere geraten, sind alle dennoch erleichtert, das Kosovo hinter sich zu haben.

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