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So viele Flaggen, so viele Länder, so viele Unterschiede. Und doch auch eine Gemeinsamkeit.

© dpa

Vor den EU-Wahlen: Europas viele Spaltungen sind keine Gefahr – sondern Chance

Europa ist ein Flickenteppich von unsichtbaren Grenzen. Und das ist gar nicht schlimm. Lassen Sie uns unsere Geschichte neu entdecken. Ein Gastbeitrag.

Während die Wahlen zum Europäischen Parlament näher rücken, hat die Öffentlichkeit den Eindruck, dass die Idee von Europa verloren gegangen ist. Wir beobachten fast tagtäglich die Auflösung eines Projekts, das, so glauben wir, von einer utopischen Vision getragen wurde. Nun heißt es, dass sich ihre Bedeutung erschöpft habe. Es mag eine teleologische Vision gewesen sein, in der tausend Jahre Konflikte in die Möglichkeit eines integrierten Europas umgedeutet wurden; eine Vision der Vorsehung, die Europa als unumkehrbare Einheit entwarf, ohne Rücksicht auf diejenigen jenseits seiner Grenzen; und eine ewige Vision, bei der der Aufbau eines solchen Europas als das Ende der Geschichte angesehen wurde. Aber nun zwingt uns der Brexit, zu erkennen, dass Europa als Union kein unumkehrbares Projekt mehr ist. Stattdessen befindet es sich in Gefahr.

Ein Faktor ist die Abkehr der Vereinigten Staaten. Das Leben in Europa ist nicht mehr so geschützt. Die Europäer fühlen sich verwundbar, da sie jetzt vor Fragen stehen, die sie zu lange gemieden haben. Mit Blick in diesen Abgrund gab es viele Versuche, eine vereinfachte Geschichte Europas zu konstruieren. Nun könnte einem ein wissendes Lächeln aufgrund der symbolischen Rekonstruktion der „Festung Europa“ über das Gesicht huschen. Denn dies ist ein Kontinent, der vor nicht allzu langer Zeit die Welt beherrscht hat. Und es ist nicht so, dass diese vergangene Herrschaft über Jahrhunderte hinweg bei „den Anderen“ keine Spuren hinterlassen hat. Aber aus Sicht der Rechten kann die Geschichte Europas immer noch als Erzählung einer weißen christlichen Zivilisation gefeiert werden, die mit Stolz und Selbstbewusstsein auf ihre mächtige Vergangenheit zurückblickt.

Es geht Nord gegen Süd, West gegen Ost, Reich gegen Arm, Alte gegen Neue

Wir verurteilen jene Ansichten auf das Schärfste, die die für unseren Kontinent so charakteristische kulturelle, religiöse und politische Vielfalt und die auf unserer Vergangenheit fußende Verantwortlichkeit völlig außer Acht lassen. Wir sehen auch keinen Wert darin, in den nationalen Geschichten der Litanei von Leiden, Kriegen und Völkermorden zu verweilen oder eine ausschließlich anklagende Haltung einzunehmen, in der Europa gemeinsam schuldig gesprochen wird. Es ist an der Zeit, solche selbstzerstörerischen Darstellungen aufzugeben und sich der Welt zu stellen und sowohl das Licht als auch den Schatten unserer europäischen Vergangenheit anzuerkennen.
Lasst uns aufhören, Europa in eine einzige Geschichte zu fassen. Anstatt sich an nostalgischen linearen Erzählungen festzuhalten, die eine vorher festgelegte Einheit implizieren, lasst uns Erinnerungen wiederherstellen, die grundsätzlich polyphon sind. Zentrale Narrative wie früher für Nationalstaaten sind nicht mehr lebensfähig. Wir sollten stattdessen unsere Vielfalt erkennen, ohne unseren Sinn für Einheit aufzugeben, denn wir fühlen immer noch, dass wir Dinge gemeinsam haben: eine Vergangenheit und eine Gegenwart – und eine Zukunft, wenn wir sie wollen.

Europa ist ein Flickenteppich von unsichtbaren und imaginären Grenzen, die die Europäer in allen Ländern und Regionen voneinander trennen. Es gibt ein atlantisches Europa, dessen Blick transatlantisch ist, auf Kosten seiner engeren Verbindung zur Heimat. Es gibt das reiche Nordwesteuropa, das die „Club Med“-Länder unter dem Deckmantel der Good Governance belehrt. Westeuropa pflegt eine alte Verachtung gegenüber den mittel- und osteuropäischen Staaten mit ihren neuen und fehlerhaften demokratischen Kulturen. Es gibt ein christliches Europa, das die religiösen und atheistischen Minderheiten ausschließt oder ignoriert, die über Jahrhunderte hinweg auch seine Geschichte geprägt haben. Es gibt das Europa der großen Länder, die die berechtigten Ängste der kleineren Länder nicht hören, während die letzteren sich bitter an lange Perioden der Fremdherrschaft erinnern. Es gibt das Europa der Einwanderer, die allzu oft als unzuverlässige Bürger zweiter Klasse angesehen werden. Die Liste geht weiter. Europa ist durch Verwerfungslinien gespalten, von denen viele nur allzu leicht wieder zu öffnen sind.

Die Spaltungen machen Europa umso reicher

Ohne auf unsere Vergangenheit zu schauen; welche Zukunft können wir aufbauen? Es gibt zwei mögliche Wege. Erstens, indem wir uns der Vorstellung anschließen, dass Europa wegen seiner Spaltungen umso reicher ist. Während wir besser darin werden, die gespaltenen Erinnerungen zu erkennen, die durch unsere unaufhörlichen Konflikte entstehen, werden wir geschickter darin, die Art von gemeinsamer Erzählung zu entwickeln. Die brauchen wir zunehmend, gerade weil dies eine Ära des gefährlichen Wettbewerbs zwischen den Mächten und der Rückkehr politischer, wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Modelle aus einer anderen Zeit ist.
Diese Geschichte der Spaltungen, die als gemeinsames Erbe betrachtet wird, muss noch geschrieben werden. Aber sie kann gerade aufgrund unseres Wissens darüber geschrieben werden, wie solche Spaltungen in unserer jüngsten Vergangenheit, insbesondere nach 1945 und nach 1989, überwunden wurden. Das geschah nicht, weil uns befohlen wurde, uns von oben nach unten zu versöhnen. Stattdessen ist das von unten nach oben entstanden, durch uns Europäer, die wir uns an echter „Erinnerungsarbeit“ beteiligen, die, wie der Philosoph Paul Ricoeur einmal sagte, immer das Werk einer „pluralistischen Erinnerung“ ist.

Ein zweiter Weg ergibt sich aus der Tatsache, dass Europa ein Kontinent des Rechts ist, der uns im Sinne unserer Vielfalt schützt. Viele Stimmen positionieren die staatliche Souveränität gegen ein angeblich überbesetztes und antidemokratisches System der Europäischen Union mit Sitz in Brüssel. Das kann durchaus eine echte Beschwerde sein. Aber genau diese Union hat die nationalen Souveränitäten garantiert, indem sie ihre Unterschiede schützt und organisiert.

Ein Projekt beispielloser Solidarität

Das europäische Projekt ist das direkte Gegenteil der bisherigen imperialen Ambitionen. Und es steht im Widerstand zu jeder Vision von einem „Gefängnis der Völker“, das von den globalen Eliten konzipiert und durchgesetzt sein soll. Stattdessen ist „Europa“ ein beispielloses Projekt der Solidarität, das vom Willen der Völker getragen wird, die den Krieg untereinander abgeschafft haben und den gleichen Wunsch nach Freiheit teilen. Dies ist sicherlich eine Geschichte, die es wert ist, erzählt und verteidigt zu werden.

Um Europa wieder aufzubauen, ist es wichtig, seine Geschichte zu rekonstruieren. Es scheint von entscheidender Bedeutung zu sein, dass diese einzigartige und fragile europäische Erfahrung eine umfassendere Bedeutung erhält. Wenn wir unsere gespaltenen Erinnerungen reflektieren und uns an neuen Formen der Auseinandersetzung mit der „gemeinsamen Erinnerung“ beteiligen, glauben wir, dass es möglich ist, die Geschichte eines Europas zu erzählen, das gegen alle Widerstände kämpft, um eine neue Art von Beziehung zu sich selbst und zum Rest der Welt aufzubauen.

- Die Autoren sind Wissenschaftler an der Universität von Lille. Den Text, der an diesem Mittwoch unter anderem in den Zeitungen The Guardian (Großbritannien), Le Monde (Frankreich) , El Pais (Spanien), Gazeta Wyborcza (Polen) erscheint, haben mehr als 50 Historiker unterzeichnet. Die Unterzeichner im Einzelnen:

Joaquim Albareda (Pompeu Fabra Universitat Barcelona), Timothy Garton Ash (Oxford Universität), Justin Bisanswa (Université Laval Québec / IAS Nantes), Alain Blum (EHESS / INED Frankreich), Felipe Brandi (EHESS Paris) , Marco Bresciani (Universitat Florenz) ,Jose Burucua (National Academy of History, Buenos Aires / IAS Nantes), Antonio Castillo Gomez (Universität Alcala), Johann Chapoutot (Sorbonne Universität, Paris), Abdessalam Cheddadi (Mohammed V Universität Rabat / IAS Nantes), Josefina Cuesta (Universität Salamanca), Antonio De Almeida Mendes (Universität Nantes), Sofia Dyak (Center for Urban History of East Central Europe, Lwiw, Ukraine), Andreas Eckert (Humboldt Universität Berlin), Alan Forrest (University of York), Josep Maria Fradera (Pompeu Fabra Universität Barcelona), Etienne François (Universität Paris 1 / Freie Universität Berlin), Robert Gildea (Oxford Universität), Catherine Gousseff (EHESS Paris, PIASt Warschau), Hannes Grandits (Humboldt Universität Berlin), Heinz-Gerard Haupt (Universität Bielefeld / EUI Florence), Béatrice von Hirschhausen (CNRS Paris / Centre Marc Bloch Berlin), Ton Hoenselaars (Utrecht Universität), John Horne (Trinity College, Dublin), Keith Hoskin (University of Birmingham / IAS Nantes), Bogumił Jewsiewicki (Universität Laval Québec), Basil Kerski (Europäisches Zentrum der Solidarität,  Gdańsk), Gábor Klaniczay (Central European University Budapest), Svetla Koleva (Bulgarische Akademie der Wissenschaften, Sofia / IAS Nantes), Kazmer Kovacs (Sapientia Hungarian University of Transylvania), Claudia Kraft (Universität Wien), Roman Krakovsky (Universität Genf), Todor Kuljic (Universität Belgrad), Audrey Kichelewski (Universität Straßburg), Jörn Leonhard (Universität Freiburg), Paweł Machcewicz (Polnische Akademie der Wissenschaften, Warschau / Imre Kertesz Kolleg Jena), Benoît Majerus (Universität Luxemburg), Caroline Morel (Europäischer Verband der Geschichtslehrerverbände, EUROCLIO), Javier Moreno Luzon (Universität Complutense Madrid), Ekaterina Makhotina (Universität Bonn), Diana Mishkova (Center for Advanced Study Sofia), Suleiman Mourad (Smith College, USA /IAS Nantes), Akiyoshi Nishiyama (Kiurytsu Universität Tokyo), Jiři Pešek (Universität Prag), Teresa Pinheiro (Technische  Universität Chemnitz), Juan Pro (Autonome Universität Madrid), Anna Reading (King’s College London), Ofelia Rey (Universität Santiago de Compostella),Valérie Rosoux (Katholische Universität of Louvain), Henry Rousso (CNRS, Paris), Luule Sakkeus (Tallinn Universität), Irina Sherbakowa (Memorial International), Steven Stegers (Europäischer Verband der Geschichtslehrerverbände, EUROCLIO), Bo Stråth (Universität Helsinki), Lakshmi Subramaniam (Centre for Studies in Social Sciences, India / IAS Nantes), Philipp Ther (Universität Wien), John Tolan (Universität Nantes), Laurence Van Ypersele (Katholische Universität Louvain), Jakob Vogel (Sciences Po Paris / Centre Marc Bloch in Berlin), Pierre-F. Weber (Universität Stettin), Jay Winter (Yale University), Sergei Zakharov (Higher School of Economics, Russia / IAS Nantes)

- Aus dem Englischen übersetzt von Hannes Soltau.

Stéphane Michonneau, Thomas Serrier

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