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Politik: Wahl per Mausklick

Die Esten entscheiden heute über ein neues Parlament – viele gaben ihre Stimme schon via Internet ab

Estland macht einmal mehr seinem Ruf als Land zwischen High Tech und Mittelalter alle Ehre: Erstmals konnten die 940 000 wahlberechtigten Bürger des kleinen baltischen Landes ihre Stimme für die Parlamentswahlen am kommenden Sonntag via Internet abgeben. Weltpremiere – zumindest bei Parlamentswahlen. Die Online-Stimmabgabe war nur im Voraus möglich und wurde fleißig genutzt: Zwischen Montag und Mittwoch, dem letzten Tag des Online-Votings, hatten mehr als 30 000 Esten ihre Stimme elektronisch abgegeben.

Das bürgerliche Regierungsbündnis aus der rechtsliberalen Reformpartei, der bäuerlichen Zentrumspartei und der konservativen Volksunion haben sich in den vergangenen Woche indes alle Mühe gegeben, das Wahlinteresse der Esten mit Versprechen von mehr Wohlstand und besserer sozialer Absicherung zu gewinnen. Obwohl Estland bei einem Wirtschaftswachstum von geschätzten zwölf Prozent in diesem Jahr erneut EU-Spitzenreiter ist, liegt das Durchschnittseinkommen bei gerade einmal umgerechnet 650 Euro im Monat. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass Regierungschef Andrus Ansip und sein Wirtschaftsminister und zugleich stärkster Herausforderer beim Kampf um das Amt des Premiers, Edgar Savisaar, derzeit durch das kleine Land touren und den Wählern höhere Einkommen versprechen. Der eine will es in den kommenden Jahren verdoppeln, der andere verspricht, dass das kleine Land bald zu den reichsten der EU zählen werde.

Vorbild wollte die kleine baltische Republik schon immer sein: Estland hat bereits vor einigen Jahren für Aufsehen mit seiner „Flat-Tax“ gesorgt: Ein Einheitssteuersatz von derzeit 22 Prozent für Privatpersonen und Unternehmen ist nicht nur in der EU zum Zankapfel geworden, sondern hat auch in Estland selbst während des Wahlkampfs für zum Teil hitzige Diskussionen gesorgt, zumal Firmen gar keine Steuern zahlen müssen, wenn sie die Gewinne im Unternehmen belassen. Dieses Steuersystem ist im Land umstritten. Die Zentrumspartei will für ihre zumeist ländliche Wählerschaft mit geringen Einkommen am liebsten ein progressives Steuersystem einführen. Die Reformpartei von Premier Ansip lehnt das kategorisch ab, will die Einheitssteuer sogar auf 18 Prozent senken.

Die Wellen schlagen hoch, wenn es um das Verhältnis zur ehemaligen Okkupationsmacht Russland geht: Aljoscha hat in den vergangenen Wochen für Aufregung gesorgt. Aljoscha – das ist eine relativ kleine, zwei Meter hohe Bronzestatue mitten in der mittelalterlichen Altstadt von Tallinn, ein Überbleibsel der 40-jährigen sowjetischen Besatzung Estlands. Aljoscha stellt einen sowjetischen Soldaten dar, ein Mahnmal gegen den Faschismus, wie es aus Moskau heißt, eine Provokation in den Augen vieler Esten. Für sie ist der Bronzesoldat ein Symbol der Besatzung durch die Sowjetunion nach 1944. In Russland sieht man den Bronzesoldaten dagegen als Befreier von der deutschen Besatzung. Als das estnische Parlament vor zwei Wochen endgültig die Entfernung des Denkmals beschloss, hagelte es aus Moskau harsche Kritik. Selbst der russische Präsident Putin schaltete sich ein, drohte der ehemaligen Sowjetrepublik mit „ernsten Folgen“. Für die hat das Denkmal schon jetzt gesorgt, denn in großer Regelmäßigkeit kommt es zu kleineren Scharmützeln zwischen jungen Esten und jungen Russen, die immerhin ein knappes Drittel der estnischen Bevölkerung ausmachen.

Der estnische Präsident Toomas Ilves, selbst ein Befürworter der Denkmal-Entfernung, hat Aljoschas Abtransport zunächst gestoppt. Er will die Wahlen und eventuell ganz andere parlamentarische Mehrheiten abwarten. Der hitzige Streit demonstrierte aber erneut, wie anfällig das russisch-estnische Verhältnis weiterhin ist. Dass es zudem immer noch offene Grenzfragen gibt, macht die Situation nicht leichter.

Helmut Steuer[Stockholm]

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