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Politik: Warum treten Sie nicht zurück, Herr Stolpe?

Der Verkehrsminister über Unwägbarkeiten der Technik, politisches Brauchtum – und Dankbarkeit

Herr Stolpe, wissen Sie wie viele Seiten der Vertrag zwischen dem Bundesverkehrsministerium und Toll Collect hat?

Ich habe nicht die Seiten gezählt, sondern die entscheidenden Teile gelesen. Ich weiß, dass es ein eindrucksvoller Vertrag ist – gegliedert in die Abschnitte A bis Z. Fast ein kleines Kunstwerk. Schon deshalb hoffe ich, dass das irgendwann allgemein zugänglich ist. Der MautVertrag kann ein Modell für andere Public-Private-Partnership-Projekte sein, bei denen private Investoren und staatliche Aufgaben zusammengebracht werden.

So ganz genau haben Sie in den Maut-Vertrag aber noch nicht reingesehen?

Der hat immerhin mit allen Anlagen über 6000 Seiten!

Und ihre Mitarbeiter im Verkehrsministerium?

Nicht alle, aber Einzelne kennen das Gesamtwerk genau. Und natürlich die Rechtsberater, mit denen wir zusammenarbeiten.

Die Ausstiegsklausel mit dem Datum des 15. Dezember haben Sie erst jetzt gefunden?

Sie wissen, dass Unternehmen und Bund sich daran halten, Details des Vertrages nicht öffentlich zu machen. Aber es stimmt, dass wir im Gespräch mit den Partnern aus der Industrie auch in Erinnerung gerufen haben, dass die Möglichkeit der Vertragskündigung besteht. Es gibt mehrere Kündigungstermine. Sie sind vom Entwicklungsfortschritt abhängig.

Dann war es der alte Taktiker Manfred Stolpe, der die Klausel ganz bewusst zu diesem Zeitpunkt aus der Tasche gezogen hat, um Daimler-Chrysler und Deutsche Telekom unter Druck zu setzen?

Es ist nicht mein Ziel, aus dem Vertrag auszusteigen. Es macht Sinn, die Lkw-Maut mit diesen Partnern zu realisieren. Aber es ist auch wichtig, dass wir uns bei den nun vereinbarten Vertragsanpassungen allen offenen Fragen stellen. Der 31. August als Starttermin ist nicht gehalten worden. Das kann ja nicht ohne Konsequenzen bleiben.

Und sie glauben, dass sich Daimler-Chrysler und Telekom auf die Bedingungen des Verkehrsministers einlassen?

Der Einführungstermin ist verstrichen. Allein wegen der Termine müssen die Verträge angepasst werden. Und da werden alle offenen Fragen diskutiert.

Dann bilden wir uns nur ein, dass die Einführung bislang ein Flop war?

Das Vorhaben Lkw-Maut hat sehr schwierige Phasen hinter sich. Wer den Schaden hat, braucht für Spott und Hohn nicht sorgen. Darüber werden aber leider der Sinn und die Chancen der Lkw-Maut leicht übersehen.

Für die öffentliche Wirkung sind aber auch die Beteiligten, die Industrie und Ihr Ministerium verantwortlich. Da hätte einiges besser laufen können.

Die Tatsache, dass der Starttermin am 31.8. verpatzt wurde, ist nicht zu beschönigen. Aber ob das, was jetzt öffentlich diskutiert wird, der Komplexität des recht großen Technologieprojektes gerecht wird, kann man auch bezweifeln. Zu Beginn lag mir sehr daran , die Partner in keine schwierige Lage zu bringen und weil ich darauf setze, dass sie es schaffen werden.

Haben sich Daimler-Chrysler und Telekom dafür erkenntlich gezeigt, dass Sie ihnen die öffentliche Blamage erspart haben?

Dankbarkeit ist keine Kategorie in der Politik und schon gar nicht in der Privatwirtschaft . Ich habe jedenfalls lange geglaubt, zumindest der 2. November sei ein ernsthafter Termin.

Und jetzt sind Sie enttäuscht?

Ich habe eine gewisse Hilflosigkeit erlebt. Selbst Spitzenmanager hatten bis Ende Juli den Ernst der Lage nicht richtig eingeschätzt, und die sitzen sehr nahe dran..

Nur die Geduld haben Sie jetzt verloren…

… ich habe die Geduld mein ganzes Leben noch nicht verloren.

Der einzige Vorwurf, den Sie sich machen, ist also Ihre Vertrauensseligkeit und Ihre Nachsicht?

Ich denke, wir werden erst nach dem Abschluss des Projektes alle Facetten bewerten können und dann auch für die Zukunft Schlüsse ziehen.

Ihnen fehlen vermutlich mehr als 900 Millionen Euro Mauteinnahmen, wenn das System erst im Frühjahr 2004 an den Start geht. Das können Sie nicht mehr aus der Portokasse ihres Ministeriums finanzieren.

Wir wollen die Lkw-Maut, um mehr Einnahmen für zusätzliche Verkehrswege zu bekommen. Die Verschiebung von Einnahmen aus der Maut ist für den Bundeshaushalt zunächst ein schwerer Schlag. Da Mautgebühren wie Steuereinnahmen behandelt werden, ist mein Etat nicht unmittelbar betroffen.

Also hat Ihr Kollege Hans Eichel jetzt ein Problem?

Auf lange Sicht wird mich der Finanzminister fragen: Was kann das Verkehrsressort sparen?

Und die Mautbetreiber?

Bei der Vertragsanpassung wird es jetzt nicht nur um Termine gehen. Wir werden uns die Vertragsstrafen ansehen und wir werden über die Einnahmeausfälle reden.

Das lehnt die Industrie rundweg ab.

Gehen Sie mal davon aus, dass wir bei den Verhandlungen nichts verschenken werden.

Wie erklären Sie dem Steuerzahler, dass durch Missmanagement privater Unternehmen und staatlicher Stellen möglicherweise 900 Millionen fehlen?

Die Verschiebung der Einnahmen kann man nicht als Schicksal hinnehmen. Da sehe ich mich schon herausgefordert, die Dinge mit allem Nachdruck zu regeln.

Warum tritt der zuständige Minister nach einem solchen Desaster nicht zurück?

Es gehört zum politischen Brauchtum, dass die Opposition in solchen Fällen sehr schnell die Karte „Rücktritt“ zieht. Das erschüttert mich überhaupt nicht. Vor allem weil ich ein seit 20 Jahren andauerndes Projekt und einen Vertrag übernommen habe und ich fest entschlossen bin, das Projekt zu einem Ergebnis zu bringen.

Ist es auch politisches Brauchtum, wenn Spitzenpolitiker für nichts mehr die Verantwortung übernehmen?

Nein. Aber hier geht es ja um das Thema Maut und um eine ganz spezielle Situation. Im Übrigen ist es nicht meine Art, mitten in der Fahrt die Zügel fallen zu lassen, nur weil der Wind etwas heftiger bläst.

Gerhard Schröder hätte auch von seiner Möglichkeit Gebrauch machen können, einen Minister zu entlassen. Stattdessen droht er lieber mit dem eigenen Rücktritt.

Ich bin ja bei mehreren dieser vermeintlichen Rücktrittsdrohungen dabei gewesen. Rücktrittsdrohungen klingen für mich noch ein bisschen anders.

Wie denn?

Dann hätte er klipp und klar sagen müssen: „Wenn das nicht eintritt, dann...“ Die Aussagen, die ich gehört habe, waren vorsichtiger. Der Kanzler hat an seine Leute appelliert, dass es sich gehören würde, mitzuziehen.

Wird Gerhard Schröder also doch nicht zurücktreten, wenn er am 17. Oktober keine eigene Mehrheit bekommt?

Gerhard Schröder ist das Ganze sehr ernst. Er hat sich in einer Weise mit seiner Agenda identifiziert, die viele in der Öffentlichkeit vor Monaten ihm abgesprochen haben. Damals hielten einige Kritiker ihn ja für jemanden, der seine Politik der jeweiligen Stimmungslage anpasst. Jetzt sagt er klipp und klar: die Reformen müssen sein! Und seine Aussagen sind ernst gemeint. Das ist kein Spiel, auch kein Taktieren. Das spürt man. Das ist jetzt einigen der Kritiker auch wieder nicht recht.

Dann könnte die Regierung am Freitag also am Ende sein?

Das ist mir zu hypothetisch. Denn: die eigene Mehrheit wird kommen.

Was macht Sie so sicher?

Es werden gute Gespräche geführt.

SPD-Abgeordnete aus dem Osten beklagen, die Hartz-Reformen würden besonders schmerzhafte Auswirkungen auf die neuen Bundesländer haben.

Wir haben aus ostdeutscher Sicht schon vor dem Sommer einige Verbesserungen erreicht. .

Bis zum jetzigen Zeitpunkt ist Hartz IV also noch nicht ostfreundlich?

Doch, das schon. Aber man kann immer noch etwas verbessern, gerade im Hinblick auf Arbeitsförderungsmaßnahmen. Mit dem jetzigen Entwurf können wir aber gut leben!

Dennoch treten Sie dafür ein, die Möglichkeiten der Arbeitsförderung in den neuen Ländern stärker einzusetzen als im Westen. Wollen sie eine Lex Ostdeutschland?

Nein, ich habe nie ein Hehl daraus gemacht, dass eine Sonderpolitik für strukturschwache Regionen kommen müsse. Ich kann nicht übersehen, dass in Gelsenkirchen die Arbeitslosigkeit auch bei 21 Prozent liegt. Deshalb habe ich immer in die Diskussion gebracht: Dort, wo die Arbeitslosigkeit doppelt so hoch ist wie der Bundesdurchschnitt, wird man Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen brauchen.

Also ABM nur für strukturschwache Regionen?

Nicht nur dort, aber dort auf jeden Fall.

Die Politik führt einen Reformstreit auf hohem Niveau. Kommen die Bürger da überhaupt noch mit?

Das Wort Reformen macht den Menschen inzwischen Angst. Das ist traurig. Dabei ist das ein positiver Begriff.

Hätten Sie sich vor einem Jahr träumen lassen, was es heißt, Verkehrsminister dieses Landes zu sein?

Nein. Bei der Maut konnte mir jedenfalls nicht gleich auffallen, dass die Erfolgsaussichten für einen pünktlichen Start am 31. August so ungünstig waren.

Die Maut ist Ihnen auf die Füße gefallen...

... sagen wir über die Füße gerollt. Die volle Brisanz wurde erst im Sommer klar. Vorher hörte man alles mögliche von einzelnen kleinen Unzulänglichkeiten. Aber dass das gesamte System nicht einsatzfähig war, wurde erst im Juli offensichtlich.

Welche Brisanz hat das Thema Deutsche Bahn?

Mein Vorgänger Kurt Bodewig hatte mich schon vorgewarnt, dass die Bahn ein ganz besonderes Thema ist, bei dem man sich voll konzentrieren müsse. Ich glaube inzwischen ganz gut einschätzen zu können, wie in der Führung des Unternehmens gedacht wird. Mit Hartmut Mehdorn kann man ganz pragmatische Lösungen finden.

Das neue Preissystem der Bahn war dann aber weniger praktikabel.

Der erste Anlauf war weniger gut gelungen. Wir haben auch ein paar Empfehlungen zur Problemlösung gegeben. Aber die Bahn ist privatwirtschaftlich organisiert. Es gibt kein Weisungsrecht der Regierung, auch wenn sie Eigentümer der Bahn ist. Aber man kann natürlich miteinander sprechen.

Warum ist die Bahn ein so heißes Eisen für jeden Verkehrsminister?

Weil sie unglaublich wichtig ist. Weil sie ein sehr hohes Publikumsinteresse hat. Und weil sie für viele einen hohen emotionalen Wert hat.

Ist das nicht lästig, wenn jeder mitreden will?

Das kann man auch als Glücksfall sehen. Es sind Hunderttausende, vielleicht sogar Millionen Menschen, die das als "ihre" Bahn betrachten. Die haben Ansprüche an die Bahn. Und die haben Erwartungen an die Politik. Sie soll Einfluss nehmen und der Bahn alle Chancen eröffnen. Die Regierung muss schon deshalb darauf achten, dass die Bahn leistungsfähig bleibt, weil die Mobilität ein ganz entscheidender Entwicklungsfaktor für Wirtschaft und Gesellschaft ist.

Im Verkehr muss der Staat lenken?

Lenken im Sinne von fördern, ebnen, ja. Wenn wir beispielsweise im Güterverkehr nicht versuchen, hilfreich zu sein, dann kommen wir in eine ganz unerfreuliche Lage. Das Verkehrsaufkommen wird sich bis zum Jahr 2015 um ungefähr 65 Prozent erhöhen. Wenn sie das dem Markt allein überlassen, prasselt das alles auf die Straße. Bahn und Binnenschifffahrt muss man stärken, um den Güterverkehr der Zukunft noch bewältigen zu können.

Sie geben freiwillig ihren Einfluss auf ein Unternehmen mit dieser verkehrspolitischen Brisanz ab, indem Sie es an die Börse bringen?

Das entscheidet sich nicht im stillen Kämmerlein einzelner Minister. Über die Vollendung der Bahnreform wird es sicher in den nächsten Monaten eine breite Debatte auch im Parlament geben. Ob man den Weg Börsengang geht und wenn ja, wann, wird dort zu diskutieren sein..

Der bislang geplante Börsengang für das Jahr 2005 ist damit auf Eis gelegt?

Über einen Termin 2005 gibt es keinen Beschluss. Das ist nur der von der DB AG angestrebte Zeitpunkt der Börsenreife. Den wird im Vorfeld niemand blockieren. Zurzeit kann niemand sagen 2005, 2006 oder wann auch immer muss der Börsengang der Bahn sein.

Was empfiehlt der Verkehrsminister?

Für dieses Vorhaben muss das Parlament gewonnen werden und die Öffentlichkeit, denn da sind ja die Nutzer. Und da gibt es noch viele Fragen und Vorbehalte zu klären. Bei einem Börsengang muss man aber auch darauf achten, ob es der richtige Zeitpunkt für die Finanzmärkte und ob es wirtschaftlich die richtige Entscheidung ist. Die Bahn muss dann sicher in den schwarzen Zahlen sein.

Vorerst gibt es also keine Volksaktie „B“?

Das ist eine Frage, die erst nach einer langen Kette von Entscheidungen zu klären ist. Börsenreife, Beschluss Börsengang und positives Börsenumfeld wären wichtige Wegmarken vorher. Erst dann kann man über die Art der Aktie entscheiden. Ich bin mir aber sicher, dass es auch große internationale Anleger gibt, die nur darauf warten, Miteigentümer der Deutschen Bahn zu werden.

Das Gespräch führten Gerd Appenzeller, Markus Feldenkirchen und Dieter Fockenbrock. Die Fotos machte Thilo Rückeis.

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