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Politik: Was Deutschland kann, wenn es will

EIN JAHR NACH DER FLUT

Von Dagmar Dehmer

Der Schock dauerte genau einen Tag. Vor fast einem Jahr tobte die Müglitz durch Weesenstein. Eine Familie saß stundenlang auf einer Mauer, umtost von einem Erzgebirgsfluss, der sonst friedlich aus dem Gebirge gluckert. Dieses Bild lässt sich nicht vergessen. Und es setzte die Deutschen massenhaft in Bewegung. Wer noch zweifelte, ob seine Hilfe wirklich gebraucht würde, brauchte nur am Tag darauf, am 13. August, die Bilder vom überschwemmten Dresdner Hauptbahnhof zu sehen.

Binnen Stunden wich der Schock einer nie da gewesenen Hilfsbereitschaft. Wer nicht alles stehen und liegen lassen konnte, um selbst Sandsäcke zu füllen oder zu schleppen, der griff zum Scheckbuch und überwies großzügige Spenden für die Flutopfer. Allein die drei größten Hilfswerke nahmen 264 Millionen Euro Spenden für die Hochwassergeschädigten ein. Auf den aufgeweichten Deichen fand vor einem Jahr eine zweite Wiedervereinigung statt. Zum ersten Mal seit den tanzenden Menschen auf der Mauer erlebten Millionen Deutsche in Ost und West wieder eine selbstverständliche emotionale Verbundenheit. Und das beste daran: Es wirkte kein bisschen peinlich oder gar nationalistisch. Die Hilfe endete auch nicht an der Grenze zur Tschechischen Republik. Mit den Spenden ist auch dort geholfen worden. Und dort war es sogar nötiger.

Inzwischen ist der zähe Schlamm der Erzgebirgsflüsse und der Elbe fast überall weggekratzt. Die Mauern der meisten Häuser, die zu retten waren, sind trocken. Vielen der Hunderttausenden Flutbetroffenen geht es dank staatlicher und privater Hilfe kaum schlechter als vor der Katastrophe. Auf den ersten Blick sieht es nicht so aus, als wäre von der Solidarität von damals viel übrig. Aber stimmt das? Wenn nun der Rhein die Kölner Altstadt überfluten würde, nicht bis zur ersten Etage – das sind sie da gewohnt – sondern ganze Häuserzeilen wegrisse, was geschähe dann?

Zugegeben, es ist schwer, sich das in der Trockenheit dieses Sommers vorzustellen. Aber gesetzt den Fall, es käme so. Dann würden sich gewiss viele Dresdner auf den Weg machen, um Sandsäcke zu füllen und zu schleppen. Und das wäre genauso selbstverständlich wie vor einem Jahr in Dresden. Die große Flut ist nicht mehr täglich im Bewusstsein. Aber dieses Zusammengehörigkeitsgefühl ist jederzeit wieder mobilisierbar.

Bei der großen Flut ist noch etwas passiert: Die Bürger und ihre Regierung haben für einen kurzen Augenblick erkannt, wie ähnlich sie sich sind. Auf beide kann man sich verlassen, wenn es eine akute Krise gibt. Dagegen lösen die Mühen der Ebenen bei beiden gewaltige Unlust aus. Das Kabinett Schröder, das sich nach fünf Jahren immer noch schwer tut, die notwendigen Reformen umzusetzen. Und die Bürger, die auch 13 Jahre nach der Vereinigung nicht zu akzeptieren bereit sind, dass es etwas länger dauern wird, bis die fünf neuen Länder „blühende Landschaften“ sein werden, und dass sie sich auf Reformen einlassen müssen, damit die Republik dahin kommt.

In diese Kategorie, „die Mühen der Ebenen gehören weitere Lehren aus der Flut: Zwar verzichtet die Bundesregierung darauf, Elbe und Donau weiter auszubauen. Aber die Frage, wie sich der Zielkonflikt zwischen einem erhöhten Gütertransport auf Wasserstraßen und der Erhaltung naturnaher Flüsse lösen lässt, steht noch nicht einmal auf der Tagesordnung der Regierung. Weil das Regenwasser viel zu schnell in die Flüsse fließt und dort das Hochwasserproblem noch verstärkt, sind sich alle einig, dass das Tempo der Flächenversiegelung dramatisch sinken muss. Wie das Kabinett jedoch das schon im Frühjahr 2002 formulierte Ziel erreichen will, statt täglich 130 Hektar Land, also rund 100 Fußballfelder, bis 2020 noch maximal 30 Hektar zu verbauen, weiß es selbst noch nicht.

Im geplanten Baugesetz sollen den Gemeinden Vorgaben gemacht werden, Flussauen nicht mehr als Baugebiete auszuweisen. Doch auch dieses Gesetz ist schon seit Monaten in der Ressortabstimmung, ohne dass erkennbar wäre, wann es endlich in den Bundestag kommt. Wenn Deutschland seine Identität in Zukunft nicht mehr allein aus gekonntem Krisenmanagement ziehen möchte, muss es die „Ebenen“ in Angriff nehmen. Die Regierung genauso wie die Bürger.

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