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Im Hospiz des Würzburger Juliusspitals. Die Aufschrift lautet: "Wir können dem Leben nicht mehr Tage geben, aber den Tagen mehr Leben".

© picture alliance / dpa

Der Weg zum selbstbestimmten Tod: Wenn er mich um Sterbehilfe bittet, werde ich dem entsprechen

An einem meiner Patienten zeigt sich die Überfälligkeit einer geregelten Suizidbeihilfe. Und die sollte das besondere Arzt-Patienten-Verhältnis würdigen. Ein Gastbeitrag.

Michael de Ridder ist Internist, Rettungsmediziner und Diplombiologe- Er ist Mitgründer des Berliner Vivantes Hospizes. Zuletzt erschien 2021 sein Buch „Wer sterben will, muss sterben dürfen“ (DVA).

Einer meiner Patienten, ein Schriftsteller, leidet seit einem Jahr an einer sich rapide verschlechternden amyotrophen Lateralsklerose (ALS). Es ist eine bis heute nicht ursächlich behandelbare, tödliche Erkrankung des Nervensystems, die mit unaufhaltsamen Lähmungen einhergeht.

Seit acht Monaten kennen wir uns, regelmäßig besuche ich ihn. Erschöpft sitzt der 62-Jährige in seinem Sessel, nur mit Mühe führt er eine Tasse Tee zum Mund. 22 Kilo hat er seit Beginn der Erkrankung verloren. Über kurz oder lang wird er wohl im Rollstuhl sitzen und beatmet werden müssen. Das aber, vertraute er mir an, wolle er auf keinen Fall: „Ich will dann die Entscheidung über mein Weiterleben in die eigene Hand nehmen.“

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Über das eigene Weiterleben selbst zu entscheiden und dabei die Hilfe anderer in Anspruch nehmen zu dürfen – das steht seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2020 grundsätzlich jedem Bürger zu, unabhängig von Alter und Krankheit, vorausgesetzt, er ist fähig, freiverantwortlich zu entscheiden.

Doch nach dem Urteil bleiben wichtige Fragen offen, die der Bundestag beantworten muss: Soll es einen neuen Strafrechtsparagraphen geben? Eine Beratungspflicht für den Suizidwilligen, gar einen Beratungszwang? Wem obliegt es, Freiverantwortlichkeit festzustellen? Im Kern geht es um die Frage: Wie hoch dürfen – oder müssen – die Hürden sein, die ein Suizidwilliger wie mein Patient zu nehmen hat?

Die Verankerung im Strafgesetz ist eine potenzielle Missbilligung

Braucht es ein neues Strafgesetz? Das Grundrecht auf Suizid und Suizidbeihilfe darin zu verankern würde bedeuten, es prinzipiell zu missbilligen und mit einem Drohpotential zu versehen. Das träfe den Suizidenten wie seinen Arzt. Und würde dies nicht dem Geist und der Intention des Verfassungsgerichtsurteils zuwiderlaufen? Ignoriert wird im Übrigen, dass Suizidhelfer, ob Arzt, Angehöriger oder Sterbehilfeorganisation, seit jeher durch das scharfe Schwert des Strafrechts bedroht sind.

Denn Suizidbeihilfe für einen nicht freiverantwortliche Suizidenten zu leisten, war, ist und bleibt eine Tötung in mittelbarer Täterschaft, die das Strafrecht durch § 212 StGB und § 222 StGB mit weit höheren Strafen bedroht, als es der vom BVerfG im Februar 2020 für „nichtig“ erklärte § 217 StGB, der die Suizidbeihilfe untersagte, je vorsah.

Angst vor dem eigenen Verfall

Immer wieder sprachen mein Patient und ich über seine Krankheit, die Möglichkeiten, ihr unausweichliches Ende hinauszuzögern und, wenn es denn soweit ist, erträglich zu gestalten. Ausführlich haben wir alternative Versorgungangebote erörtert, selbst das von ihm selbst ins Spiel gebrachte sogenannte Sterbefasten. Doch letztlich brachten alle seine Einlassungen immer wieder zum Ausdruck, dass er ein autonomer Mensch sei und seinen eigenen Verfall nicht erleben wolle.

Ich bin geneigt, seiner Bitte zu entsprechen. Damit übernähme ich Verantwortung, deren Grundlage allein sein freiverantwortlicher Entschluss ist. Wie aber könnte ich sie ihm bescheinigen? Muss sie ein Psychiater bestätigen, wie es manche Gesetzentwürfe zwingend vorsehen?

Nur in Zweifelsfällen sollte ein Psychiater nötig werden

In liberalen Gesellschaften gilt ein weithin akzeptiertes Standardverständnis von Autonomie. Danach bezeichnet Autonomie das Vermögen, auf der Grundlage eigener Werte und Überzeugungen authentisch, d.h. nach kritischer Selbstreflexion zu entscheiden und zu handeln. Im Falle einer medizinischen Behandlung prüft dies immer der behandelnde Arzt, der nur in Zweifelsfällen einen Psychiater oder das Betreuungsgericht hinzuzieht.

Zwischen meinem Patienten und mir besteht ein gewachsenes Vertrauensverhältnis, das Zweifel an seiner Autonomie für mich ausschließt. Sein Sterbewille ist ernsthaft, wohlerwogen und für mich nachvollziehbar. Hätte ich auch nur den geringsten Zweifel an seiner Freiverantwortlichkeit, wie sie etwa eine von seiner Grunderkrankung unabhängige psychische Erkrankung mindern könnte, würde ich schon aus rechtlichem Eigenschutz einen Psychiater hinzuziehen. Jeder verantwortungsvolle, zur Suizidhilfe grundsätzlich bereite Haus- oder Palliativarzt würde ebenso vorgehen.

Auch forensische Psychiater können irren

Von der Tatsache, dass auch forensische Psychiater nicht selten irren, soll hier erst gar nicht die Rede sein, auch davon nicht, dass Psychiater mit wenigen Ausnahmen Suizidwilligen Freiverantwortlichkeit absprechen.

Alle Gesetzesvorschläge und Eckpunktepapiere sehen eine Beratungspflicht vor, manche gar eine „zwingende ärztliche Expertise“. Fraglos sind Beratung und Aufklärung eines Suizidwilligen unbedingt zu ermöglichen und auszuweiten. Doch darf man sie erzwingen?

Hierzu sagt das BGB (§630 e): „Der Aufklärung des Patienten bedarf es nicht, soweit diese aufgrund besonderer Umstände entbehrlich ist oder der Patient auf die Aufklärung ausdrücklich verzichtet hat.“ Mit anderen Worten: Kein Arzt hat keine Aufklärungs- und Beratungspflicht, doch hat er die Pflicht, dem Patienten eine Aufklärung und Beratung anzubieten.

Selten wünschen auch gesunde Menschen einen Suizid, Fachleute sprechen dann von einem sogenannten Bilanzsuizid. Auch aus Angst vor Demenz oder aus wohlverstandener „Lebensmüdigkeit“ im hohem Alter erwägen manchen Menschen einen Präventivsuizid. An derart heikle Suizidhilfebegehren sollte der Gesetzgeber in der Tat eine Beratungspflicht knüpfen. Gleiches sollte, wenn professionelle Sterbehelfer (Sterbehilfeorganisationen) involviert sind. Bei ihnen kann ja gerade kein gewachsenes Arzt-Patient-Vertrauensverhältnis angenommen werden.

Offenheit, vertrauen und Empathie

Indes erübrigt sich unter den zweifellos „besonderen Umständen“ des Suizidhilfebegehrens eines schwerkranken freiverantwortlichen Suizidwilligen eine Beratungspflicht. Denn eine von Offenheit, Vertrauen und Empathie getragene Arzt-Patientenbeziehung ist ohne ärztliche Beratung unvorstellbar.

Selbstverständlich muss ich als Arzt alle Möglichkeiten diesseits der Suizidbeihilfe – der Ultima Ratio ärztlicher Hilfeleistung – ausloten: Hinwendung zum (Weiter-)Leben, dessen Stützung durch optimale Pflege, Einbeziehung von Nahestehenden sowie das Angebot palliativmedizinischer und hospizlicher Versorgung sind unverzichtbar, bevor sein Suizidhilfebegehren als ernsthaft und wohlerwogen gelten darf.

Eben dies ist erschöpfend zwischen uns besprochen worden, mit dem Ergebnis, dass sein Suizidhilfebegehren unerschütterlich ist. Folglich hält es mein Patient, seinen Tod vor Augen, für entwürdigend, sich einem inquisitorischen Prozess zu unterwerfen. Wenn er sich eines Tages meine Hilfe wünscht, werde ich sie ihm nicht versagen.

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