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Politik: Wenn Freiheit schmerzt

Von Gerd Nowakowski

Das Bild tut weh, es brennt sich ein. Ein neunjähriger Junge, der in der Tram einen Mann anlächelt – den Mann, der wenig später den kleinen Mitja umgebracht haben soll. Jeder Vater, jede Mutter fühlt sich davon angesprochen, kann den Schmerz, den Schrecken und die Verzweiflung spüren, jenen Albtraum, durch den die verzweifelten Eltern des kleinen Jungen aus Leipzig gehen. Auch wenn es bisher nur ein Tatverdacht und der Mann noch flüchtig ist, für die Gesellschaft steht das Urteil längst fest: wegschließen – und zwar für immer.

Fälle wie in Leipzig rühren Emotionen auf und rufen politische Reaktionen hervor. Ein Zufall ist es nicht, dass die Öffentlichkeit schon vor dem Fall Mitja heftig wie selten darüber diskutiert, die Sicherungsverwahrung für gefährliche Straftäter auszuweiten. Es ist eine sozialdemokratische Bundesjustizministerin, Brigitte Zypries, die Sicherungsverwahrung auch für jugendliche Straftäter will, die zu mindestens sieben Jahren Haft verurteilt wurden. Für immer wegsperren, Jugendliche – und kaum jemand protestiert.

Eine Gesellschaft fühlt sich bedroht. Welch merkwürdiger Widerspruch: Seit Jahren nimmt die Zahl der Straftaten in Deutschland ab, doch nie zuvor war die Bereitschaft so groß, Straftäter über das Strafende hinaus einzuschließen. Bis zum Tod. Strafe, nicht Besserung – bis weit ins liberale Lager ist der Resozialisierungsgedanke einer Haftstrafe nicht mehr populär. Überbelegte Haftanstalten, fehlende Arbeitsangebote, mangelnde Therapieplätze, Gewalt gegen Mithäftlinge: Das alles ist nicht nur in Berlin, sondern im gesamten Bundesgebiet die Realität der Strafgefangenen. Haftanstalten werden zu Verwahranstalten. Wenn die eingesperrten Menschen herauskommen, ungebessert, untherapiert, dann hat die Gesellschaft Jahre verloren, ohne die Gefahr zu mindern. Mit absurden Folgen. In Quedlinburg sind derzeit 32 Polizisten Tag und Nacht damit beschäftigt, einen entlassenen und weiter als gefährlich eingestuften Straftäter zu überwachen.

Sicherungsverwahrung muss auch in einem liberalen Rechtswesen ein – letztes – Mittel sein, Gefahr von der Gesellschaft abzuwenden. Die Gesellschaft hat auch Anspruch auf eine Justiz, die Risiken abwägt und vor allem kennt. Der Mordverdächtige aus Leipzig wurde schon in der DDR mehrmals wegen Kindesmissbrauchs verurteilt, ohne dass die bundesdeutsche Justiz davon Kenntnis hatte. Aber es scheint, als sei seit den sechziger Jahren, als der vierfache Jungenmörder Jürgen Bartsch die Republik aufrührte, die Debatte in einer Warteschleife hängen geblieben. Damals ließ sich Bartsch kastrieren, um seinen Trieb zu bändigen, und starb bei der Operation.

Wie viel Freiheit wollen wir, halten wir aus? Zu welchem Maß an Gefährdung ist die Gesellschaft bereit? Wie viel muss sie aushalten? Die Videoüberwachung im öffentlichen Raum und dem Nahverkehr hat vor zehn Jahren breite Empörung ausgelöst; jetzt wird sie von nahezu allen Parteien gefordert und von den Menschen akzeptiert. Vorbehalte gegen den Aufbau einer DNS-Kartei sind geschwunden, Serienuntersuchungen ganzer Bevölkerungsgruppen nach Sexualdelikten werden ohne Murren hingenommen. Welch ein Unterschied zu den wütenden Protesten gegen die damals als Allmachtsfantasien kritisierten Rasterfahndungskonzepte des früheren Chefs des Bundeskriminalamtes, Horst Herold. Und das, obwohl die aus heutiger Sicht als harmlose Fahndungsinstrumente gelten können.

Eine freiheitliche Gesellschaft erweist sich daran, wie menschenwürdig ihre Haftanstalten sind. Ja, niemand kann garantieren, dass ein Gefangener nach der Haft nicht wieder rückfällig wird. Ein Risiko bleibt. Doch selbst ein Überwachungsstaat wie die DDR konnte Verbrechen nicht verhindern. Unsere Demokratie muss immer wieder neu die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit, zwischen Resozialisierung und Strafe finden. Jedes tote Kind ist unerträglich, ist ein unendliches Leid zu viel. Wegsperren für immer? Nur in einer Gesellschaft, in der die Angst herrscht, alles Handeln beherrscht, wird das die einzige Antwort sein. Tod hinter Gittern: Dieser Preis muss einer offenen Gesellschaft zu hoch sein.

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