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Politik: Wer hätte gedacht, dass das Verhältnis von Ost und West zur unendlich verwickelten Geschichte werden würde (Leitartikel)

Haben wir die Erinnerung, die wir verdienen? Gut, es muss im Zeitalter der Event-Kultur vielleicht sein, dass heute abend in Berlin auf einem halben Dutzend Podien eine Remmidemmi-Fete abgehen wird.

Haben wir die Erinnerung, die wir verdienen? Gut, es muss im Zeitalter der Event-Kultur vielleicht sein, dass heute abend in Berlin auf einem halben Dutzend Podien eine Remmidemmi-Fete abgehen wird. Wem das nicht passt, der hat den Bundestag, Diskussionen satt, und schliesslich ist niemandem verboten, sich auf seine Weise seinen Erinnerungen und Gefühlen hinzugeben. Ausserdem hat die Handvoll Autoren, die die Deutungsmacht über die ostdeutsche Befindlichkeit innehat, die verunsicherte Öffentlichkeit schon zur Feier des Tages mit wahren Breitseiten des Vorbehalts und der Problematisierung eingedeckt. Kann man nicht fast den Eindruck gewinnen, die Sieger über das SED-Regime seien in den zehn Jahren seither zu den Verlierern geworden? Es bleibt die Erkenntnis: Die zehnte Wiederkehr des Tages der Tage, vor dem alle kapitulierten, um nur noch "Wahnsinn" zu rufen, begehen die Deutschen mit gemischten Gefühlen.

Natürlich tut man gut daran, diese Gespaltenheit niedriger zu hängen. Unberührt davon bleibt das Faktum, dass von diesem Abend vor zehn Jahren nichts geringeres als eine neue Epoche ausgegangen ist. Niemand, der seine Sinne zusammenhat, wird auch die ungeheure Veränderung zum Positiven hin leugnen, die die Vereinigung für die neuen Länder gebracht haben. Selbst eingefleischte Parteigänger des DDR-Sozialismus müssten zumindest zugeben, dass alles das, was ihr Regime nur versprach und nie hielt, inzwischen längst Wirklichkeit geworden ist. Doch hätte man sich damals vorstellen können, dass derjenige, der prognostizierte, es werde mindestens zehn Jahre dauern, bis die beiden Deutschlands zusammengewachsen seien und der deshalb als Pessimist galt, heute wie ein haltloser Optimist erscheint? Und dass das Verhältnis von Ost- und Westdeutschen zur unendlich verwickelten Geschichte werden würde - keine Auflösung abzusehen?

Daran ändert wenig, dass wir mittlerweile auch die Gründe dafür ausreichend seziert haben. Ja, es sind die viel zitierten Mühen der Ebenen nach dem grossen Umbruch, die wir erleben. Langsam geht uns auf, dass auch eine glückhafte Umstellung die Menschen überfordern kann. Die Jahre der deutschen Vereinigung haben uns gezeigt, wie es ein Land auseinanderzerren kann, wenn sich für die einen (fast) alles und für die anderen (fast) nichts geändert hat. Nach wie vor ist nicht zu übersehen, dass die Ostdeutschen durch ihr kollektives Schicksal und das reale Gefälle zwischen Ost und West benachteiligt sind. Und ebenso offenkundig ist, dass sich in den Befindlichkeits-Scharmützeln, die wir uns liefern, auch die Neigung der Deutschen zum Lamentieren und zum Mäkeln auf hohem Niveau austobt.

Das alles sind Grössen, die nicht leicht zu verändern sind. Sie wurzeln in der Geschichte der Teilung, also darin, wie wir, im Westen wie im Osten, in diesen vier Jahrzehnten geworden sind. An diesem Jahrestag des 9.Novembers 1989 ist deshalb nicht daran vorbeizukommen, dass dieser unerhörte Einschnitt ein Paradoxon hervorgebracht hat: dass wir bekommen haben, was sich keiner mehr ausdenken konnte, nämlich die Einheit, aber noch weit davon entfernt sind, sie uns wirklich zu eigen gemacht zu haben. Es bedarf dafür, versteht sich, grosser Anstrengungen über die ganze Bandbreite der Politik hin. Aber mindestens ebensosehr braucht es Ausdauer, Geduld, die Bereitschaft, gelten zu lassen, und den Versuch des Verstehens dessen, was mit den Deutschen passiert ist - nicht erst heute und gestern, sondern in dieser merkwürdigen Zeit, deren Ende heute vor zehn Jahren begann. Übersichtsseite zum 10. Jahrestag des Mauerfalls

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