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Politik: Wer hat uns verraten?

Die Weltgeschichte steckt voller Vertrauensbrüche. Manche waren verwerflich, andere sinnvoll. Und jetzt hat einer Heide Simonis auf dem Gewissen

Von Andreas Oswald

Wie von „hinten erschossen“ fühlte sich Heide Simonis. Ein einziger Abweichler hatte ihr vier quälende Wahlgänge lang die Gefolgschaft verweigert. Ein Verräter? „Ein Schwein“, sagte ein SPD-Abgeordneter vor laufender Kamera. Und er fügte mit bebender Stimme hinzu: „Wenn ich wüsste, wer das ist, würde ich mit dem sonst was machen.“

Kaum jemand wird so gehasst wie der Verräter. Ob er aus tiefem Ethos handelte, weil er angesichts des Wahlergebnisses eine große Koalition wollte, oder weil er sich an Heide Simonis aus persönlichen Gründen rächen wollte, wir wissen es nicht. Wir wissen nur eines: Wenn er enttarnt wird, ist seine politische Karriere beendet. Wer ihn aber als Verräter brandmarkt, setzt sich auch dem Vorwurf der Scheinheiligkeit aus. Das ist ja das schöne, das erwünschte an einer geheimen Wahl: dass sie demokratisch ist und ihr Ergebnis nicht von vornherein feststeht. Es liegt ein tiefer Sinn darin, dass die Väter der Demokratie einst die geheime Wahl einführten. Und sollen Abgeordnete nicht ihrem Gewissen folgen, vor allem anderen?

Verrat ist Vertrauensbruch. Jede Gesellschaft beruht auf Vertrauen. Sie beruht aber auch auf Verrat. Aller politischer Wechsel fängt mit Verrat an. Es war einer der größten Momente der Geschichte, als 1789 in Frankreich Vertreter der höheren Stände sich aus Überzeugung von ihren Privilegien lossagten. Für eine neue Verfassung, deren Grundsätze sich in ganz Europa durchsetzen sollten und bis heute gültig und selbstverständlich sind.

Verrat – ein großes Wort, ein Wort voller Widersprüche. Wie viele Deutungen hat das Wort erfahren: Die Weltliteratur ist voll von Verrat, die Weltgeschichte ist es ebenso wie unser aller Leben. Verrat ist eines der ureigensten Themen des Menschen, seit Judas für 30 Silberlinge Jesus verriet. Brutus verriet Caesar, Galilei die damalige Weltsicht. Macbeth ermordete den König, um später selbst Opfer zu werden. Krimhild verriet Siegfried, wenn auch unbeabsichtigt. „Verrat und Argwohn lauscht in allen Ecken“, schrieb Schiller im „Wilhelm Tell“. Robespierre ließ in Massen Verräter der Großen Französischen Revolution hinrichten, bevor er selber unter der Guillotine lag. Wie viele Häretiker wurden gefoltert und hingerichtet, wie viele Kommunisten fielen als Verräter den Stalinschen Säuberungen zum Opfer. Die „Dolchstoßlegende“ rechtfertigte nach dem Ersten Weltkrieg den Mord an Walther Rathenau, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht.

Der Kuss des Judas war das Sinnbild, um die Juden über Jahrhunderte hinweg immer wieder des Verrats zu verdächtigen. „Judas“ – dieses Wort taucht fast immer auf. Auch als 1972 der CDU-Bundestagsabgeordnete Julius Steiner dabei half, dass Willy Brandt das Misstrauensvotum überstand. Steiner hatte für sein Tun Geld erhalten. Der seinerzeitige schleswig-holsteinische Ministerpräsident Uwe Barschel stürzte über den einst engen Mitarbeiter Reiner Pfeiffer, der seine Machenschaften verriet. Die Empörung über die Bespitzelung von Barschels damaligem Widersacher Björn Engholm war groß und brachte diesen schließlich an die Macht. Verrat ist diesem Bundesland nichts Fremdes. Ist es aber Verrat, wenn ein Abgeordneter seine Partei verrät, um seinem eigenen Gewissen treu zu bleiben? Lassen wir einmal staatsrechtliche Abwägungen beiseite. Verrat hat immer einen einseitigen Bezug zum eigenen Lager. Verrat ist aber oft auch Treue zu einem anderen ethischen Gebot. Ist man dem einen treu, verrät man das andere. Es ist nicht selten eine Frage der Parteinahme, ob von Verrat oder (gerechtem) Widerstand die Rede ist. Es ist aber auch eine Frage der Offenheit – oder der arglistigen Täuschung. Der Stimmenthalter von Kiel hat, so er denn Sozialdemokrat ist, bei der internen Probewahl für Simonis gestimmt.

Kommen wir zu den großen Fällen. Es ist durchaus sinnvoll, „Verrat“ als objektiven Begriff zu verwenden. Bevor Claus Graf Schenk von Stauffenberg das Hitler-Attentat plante, musste er sich vor seinem eigenen Gewissen zum Schlimmsten bekennen, zu dessen ein General fähig sein kann: dem Hochverrat. Die Interpretation „Widerstand“ ist in diesem Zusammenhang zwar politisch richtig und honorig. Aber: „Historisch ist ein solches Versteckspiel fruchtlos“, schrieb Margret Boveri, die große Chronistin des Widerstands und Denkerin ihrer Zeit in ihrem vierbändigen Werk „Der Verrat im 20. Jahrhundert“. Das Wort „Widerstand“ vernebelt die Härte und die Leistung des Widerständlers, zu der er sich durchringen muss. Stauffenberg kurz vor dem Attentat auf Hitler: „Derjenige, der etwas zu tun wagt, muss sich bewusst sein, dass er wohl als Verräter in die deutsche Geschichte eingehen wird. Unterlässt er jedoch die Tat, dann wäre er ein Verräter vor seinem eigenen Gewissen.“

Julius und Ethel Rosenberg wurden 1953 nach einem heftig umstrittenen Prozess in den USA hingerichtet – wegen Atomspionage für die Sowjetunion. Das Paar hatte sich in der Friedensbewegung engagiert.

Verrat aus ethischen Gründen – er konnte weit gehen. Der Schriftsteller Lion Feuchtwanger, dessen Bücher ein einziger Schrei nach Freiheit und Toleranz sind, verteidigte die Stalinschen Schauprozesse, weil er der Ansicht war, dass Hitler die Sowjetunion überfallen werde und nur die Sowjetunion in der Lage sein werde, Hitler zu besiegen. Um Stalins Herrschaft zu stärken, verriet er die tiefsten Grundsätze, die er hatte. Moralist, Realist – es verschwimmen die Grenzen, je tiefer jemand in das Thema Verrat einsteigt. Hatte Feuchtwanger furchtbar Recht? So wie andere Intellektuelle, die es ihm nachtaten?

Wie Jean-Paul Sartre. Der gab dem Verrat noch eine besondere Note. In „Les Mains Sales“ richtet die französische Resistance einen der eigenen Kämpfer hin, der den Kollaborateur zwar auftragsgemäß erschoss. Aber es herrschten anschließend Zweifel, ob er dies aus politischer Standfestigkeit getan hat oder aus Eifersucht. Das Aufspüren auch nur des geringsten Verrats in den eigenen Reihen beschäftigte politische Bewegungen.

Und Regierungen. Das Spitzelsystem der Stasi umfasste die ganze DDR und machte wiederum viele Menschen zu Verrätern der Opposition und ihres Milieus. Der Schriftsteller Sascha Anderson war nach seiner Enttarnung wohl einer der unbeliebtesten Menschen in Berlin.

Können wir mit Verrat leben? Müssen wir mit ihm leben? Schlimmer: Wir brauchen den Verrat. Ohne Judas gäbe es nicht Jesus, nicht Auferstehung, nicht die Rettung der Welt. Der Verrat des Judas, der Verrat des Glaubens, der Mensch als Sünder – es ist die grundlegende Konstruktion eines großen Entwurfs: der der christlichen Zivilisation.

Wir brauchen den Verräter, um uns ein Bild von uns selbst zu machen. Die Psychologie weiß: Erst der Verrat an den Eltern macht den Menschen zu einer reifen Persönlichkeit.

Es gäbe unsere Welt nicht wie sie ist, wären wir nicht Verräter, und würden wir nicht Verräter jagen.

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