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António Guterres (63) ist seit 2005 UN-Hochkommissar für Flüchtlinge und Chef des Flüchtlingshilfswerks UNHCR in Genf. Guterres war von 1996 bis 2002 Premierminister Portugals.

© dapd

Interview: „Wir erwarten offene Tore in Europa“

Der Chef des Flüchtlingshilfswerks UNHCR über Syrien und die humanitären Tragödien in Afrika.

Hat der Syrienkonflikt die schlimmste Flüchtlingskrise produziert, seitdem Sie Ihr Amt 2005 antraten?

Ich will keine Rangliste der Tragödien erstellen, die Auswirkungen des Syrienkonflikts auf die Menschen sind aber in der Tat fürchterlich. Rund 2,5 Millionen Männer, Frauen und Kinder brauchen humanitäre Hilfe wie Lebensmittel, Medizin und Unterkünfte, rund eineinhalb Millionen Syrer sind innerhalb ihres Heimatlandes auf der Flucht. 350 000 Menschen mussten vor der Gewalt ins Ausland fliehen. Syrien ist aber nicht die einzige Flüchtlingskrise, die uns in Atem hält …

Wo sind die anderen aktuellen Brennpunkte?
Wir erleben zudem die afrikanischen Tragödien in Mali, in der Demokratischen Republik Kongo und zwischen Sudan und Südsudan. Hunderttausende Menschen haben ihre Heimat verloren. Schauen Sie auf die Leiden der Menschen, die aus dem Sudan in den Südsudan fliehen: Familien müssen tagelang ohne Verpflegung marschieren, sie müssen ihre verhungerten und verdursteten Kinder am Wegesrand zurücklassen. Neben diesen aktuellen humanitären Krisen haben wir die lang andauernden Krisen wie in Afghanistan. Die Herausforderungen für humanitäre Helfer wie uns sind schrecklich.

Kommen wir auf Syrien zurück. Noch halten die vier Nachbarländer Türkei, Libanon, Jordanien und Irak ihre Grenzen für die Menschen aus Syrien offen. Doch irgendwann werden die Kapazitäten erschöpft sein. Können sie sich auf offene Grenzen verlassen, wenn der Flüchtlingsstrom weiter anschwillt?
Wir hoffen es. Wir brauchen aber mehr internationale Solidarität mit der Türkei und den nahöstlichen Aufnahmeländern. Das ist auch eine Frage des Eigeninteresses reicher westlicher Länder. Jordanien zum Beispiel steht wegen des Andrangs aus Syrien vor gewaltigen ökonomischen und politischen Problemen. Und jetzt steht der Winter vor der Tür. Die Lager müssen für die kalte Jahreszeit ausgerüstet werden. Der Westen kann sich ein wankendes Jordanien nicht leisten. Besonders die europäischen Staaten müssen den Ernst der Lage erkennen. Europa liegt schließlich sehr nahe an der Region.

Noch weigern sich die EU-Staaten, geflohene Syrer in großem Umfang aufzunehmen. Was sollen die Europäer konkret tun?
Bislang sind nur einige tausend Syrier in europäischen Staaten untergekommen. Hunderttausende Syrer aber fanden in den Nachbarstaaten Zuflucht. Die meisten wollen so schnell wie möglich in ihre Heimat zurück. Der Konflikt kann aber noch lange dauern, wir wissen nicht, ob und wann die Menschen zurückgehen können. Wenn wir mit Programmen zu Neuansiedlungen in Drittländern starten, dann erwarten wir die Hilfe Europas. Die Europäer müssen ihre Tore öffnen.

Was leisten die anderen arabischen Staaten für die Syrer, besonders die reichen Golfstaaten?
Die Golfstaaten geben traditionell nicht viel Geld an internationale Hilfsorganisationen. Sie leisten aber direkte Hilfe an die Staaten in der Region, die Flüchtlinge aus Syrien aufnehmen.

Jan Dirk Herbermann

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